Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Kind, Das Nicht Fragte

Das Kind, Das Nicht Fragte

Titel: Das Kind, Das Nicht Fragte
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
Vom Netzwerk:
südlich des Ätna gelegenen großen Orangenhaine, in denen ich einmal eine Nacht im Freien verbracht habe, um den Düften der Früchte ganz nahe zu sein. Ich bleibe also stehen und atme diese herrliche Luft ein, als die auf der Gangway stehende Stewardess mir erneut hinterherkommt. Anscheinend nimmt sie an, dass es mir nicht gut geht oder dass sonst irgendetwas mit mir nicht stimmt, jedenfalls fragt sie mich genau das: ob es mir nicht gut gehe und ob sie mir helfen könne. Da weiß ich sofort, dass es mir nun aus dem Stand heraus gelingen wird, endlich eine Frage zu platzieren, es ist eine richtige Erlösung, denn schließlich habe ich schon die ganze Zeit etwas fragen wollen und es doch nicht geschafft. Riechen Sie auch diese herrliche Luft? frage ich also und bin etwas stolz auf diese sich direkt aus der Situation ergebende Frage.

    Es kommt jedoch nicht zu einer Antwort, denn die Stewardess wendet sich sofort, als machte ich nur einen Scherz, von mir ab und trippelt die Gangway so auffallend schnell wieder nach oben, als wollte sie mir ihre Verstimmung nun deutlich zeigen. Ich schaue ihr nach, als der Busfahrer hupt, und so betrete ich mit einer
nicht beantworteten Frage den Bus, wo ich meine Frage gleich der nächstbesten Mitreisenden erneut stelle: Riechen Sie auch diese herrliche Luft? Anstatt auf diese Frage einzugehen und sie endlich mit einer Antwort zu würdigen, antwortet die Mitreisende aber nur Haben Sie sich die Finger verbrannt oder was? , was mich sofort wieder schweigen lässt, worauf die Mitreisende sagt: Sie sollten die Finger mit Wasser kühlen. Was soll ich? Wovon ist denn überhaupt die Rede? Ich presse die Finger in der Serviette zusammen und verstumme, ich muss schlucken, es geht mir nun wirklich nicht gut, meine gut platzierte Frage wird von aller Welt ignoriert, was mir zeigt, dass diese Frage eben doch nicht so gut platziert ist, wie ich gedacht habe. Der Bus fährt los, ich lasse meine rechte Hand sinken und die Serviette zwischen den dicht gedrängt stehenden Mitreisenden auf den Boden fallen. Dann aber trete ich unauffällig darauf und zerstampfe sie mit beiden Füßen, bis ich sie – weiter vollkommen unauffällig und heimlich – in kleinste Teile zerrupft und vernichtet habe.

    Im Innern des Flughafengebäudes stehen wir dann alle, genau wie ich befürchtet habe, um das unsäglich langsam rotierende Laufband herum und warten auf unsere Koffer und das Gepäck. Ich setze mich an den Rand der weiträumigen Halle, hole meinen Notizblock hervor und notiere: Riechen Sie auch diese herrliche Luft? – Ja, Sie haben recht, jetzt rieche ich sie auch. – Orangen? Zitronen? Was meinen Sie? – Ja, Orangen, Zitronen und vielleicht etwas Minze oder Melisse, jedenfalls etwas Grünes, Kühles.

    In guten Dialogen reiht sich ganz selbstverständlich und weiterführend Frage an Frage, und die Antworten fordern immer neue Fragen heraus und verwandeln sich selbst wieder in Fragen. Das Fragen und Antworten ist in guten Dialogen eine Lust und ein Fest, doch man muss von dieser Kunst etwas verstehen, um sie als Lust und Fest zu erleben. Ich glaube davon viel zu verstehen, ich bin eine Art Fachmann für diese Kunst, und es ist mir gelungen, daraus sogar meinen Beruf zu machen.

    Von Beruf bin ich nämlich Ethnologe, ich befrage Menschen fremder Kulturen und ziehe aus diesen Fragen meine Schlüsse. Nun bin ich auf Sizilien gelandet, um einer solchen Forschungsarbeit nachzugehen. Ich werde ein paar Monate auf der Insel bleiben, um nichts anderes zu tun, als Fragen zu stellen und Antworten in Fragen zu verwandeln. Wenn das gelingt, beginnt eine vorher noch weitgehend stumme oder verschwiegene Menschengegend mit einem Mal zu reden. So etwas ist wie ein Zauber. Alte und junge Menschen, Menschen jeder Herkunft und jedes Geschlechts, antworten und fragen selbst etwas und sprechen und reden und beginnen vielleicht sogar zu erzählen. Einige Male ist mir das bereits ansatzweise gelungen, ja, es ist mir gelungen, das Schweigen in Reden zu verwandeln, und ich habe Bücher über die Erzählungen aus der Fremde geschrieben, erfolgreiche und nicht nur von meinen Fachkollegen, sondern weit über eine so begrenzte Leserschaft hinaus gelesene Bücher.

    Die Stadt der Dolci soll mein nächstes Buch heißen, ich habe diesen Titel im Kopf, halte ihn aber noch geheim. Der Titel spielt auf den sizilianischen Ort an, in dem ich meine Forschungsarbeiten durchführen will. Es ist ein Ort, der in der Welt der Süßigkeiten und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher