Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Kind, Das Nicht Fragte

Das Kind, Das Nicht Fragte

Titel: Das Kind, Das Nicht Fragte
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
Vom Netzwerk:
erzähle ich Ihnen gern, aber bitte erst, wenn ich wieder frisch genug bin.
    – Erforschen Sie auch diese Pension? setzt sie nach.
    – Neinnein, antworte ich, Sie können ganz beruhigt sein, ich erforsche diese Pension nicht, und wenn ich es tun würde, würde ich Sie vorher bitten, es tun zu dürfen, und Sie dann genau darüber aufklären, worum es bei diesen Forschungen geht.
    – Schade, antwortet sie zu meinem Erstaunen, schade, ich hatte schon darauf gehofft, dass Sie hier einmal alles gründlich erforschen. Ich habe im Netz gelesen, dass Ethnologen sehr ausdauernde und geduldige Menschen sind, die sich bemühen, fremdes Leben zu verstehen und zu erforschen.
    – Genau so ist es, sage ich, genau das tun wir, ich werde es Ihnen noch genauer erklären.
    – Schade, wiederholt sie, es ist einfach zu schade, dass unsere Pension Sie anscheinend nicht interessiert.
    – Warum sollte ich mich denn für sie interessieren? frage ich und beobachte, dass sie innehält und anscheinend über etwas nachdenkt.

    – Wissen Sie eigentlich, dass Sie eine sehr angenehme Stimme haben? sagt sie unvermittelt. Ihre Stimme erinnert mich an jemanden oder an irgendetwas, ich weiß aber nicht woran. Seit ich Ihre Stimme gehört habe, denke ich darüber nach und komme nicht weiter.
    – Wir haben ja Zeit, sage ich, wir werden es noch zusammen herausbekommen.

    Sie nickt und lächelt leicht abwesend, sie macht noch einmal eine kleine Runde durch die beiden Zimmer und bleibt vor meinem Schreibtisch stehen, wo sie einen langen Blick auf den geöffneten Laptop, die vielen Notizhefte, die Reihen von Büchern und die dicken Stapel weißen Papiers wirft.

    – Wozu brauchen Sie denn all diese Stifte? fragt sie schließlich und deutet auf die bunten Stifte aller Art, die ich an der oberen Kante des Schreibtischs nebeneinander in eine lange Reihe gelegt habe.
    – Ich notiere viele Beobachtungen mit der Hand, antworte ich, jede Farbe signalisiert ein anderes Thema, ein anderes Motiv, eine andere Perspektive.
    Ich habe den Eindruck, dass sie das alles sehr fasziniert, anscheinend hat sie noch nie erlebt, dass ein Gast seine Zimmer derart akribisch für die Arbeit herrichtet, es kommt mir sogar beinahe so vor, als durchliefen sie Schauer der Irritation und einer versteckten Begeisterung, weil sie hinter dem, was ich vorhabe, etwas durch und durch Geheimnisvolles vermutet.

    Als ich sie durch ein Räuspern aus ihrer Versunkenheit wecke, tut sie leicht verlegen. Sie will das Zimmer verlassen, als sie den Meldebogen bemerkt, der doch eigentlich der Vorwand für ihr Betreten der Räume gewesen ist.

    – Ach ja, sagt sie, auf dem Meldebogen fehlt noch ein wichtiges Detail.
    – Und das wäre? frage ich.
    – Sind Sie ledig oder verheiratet?
    – Beides, antworte ich beinahe, zögere dann aber zum Glück die Antwort hinaus, indem ich ans Fenster trete und auf das Meer schaue.
    – Haben Sie eine Vermutung? frage ich.
    – Ja, antwortet sie, ich vermute, Sie sind mit einer Ethnologin verheiratet, aber Sie beide leben lange Zeit des Jahres getrennt,
jeder forscht dann woanders, und danach leben Sie wieder eine Weile zusammen.
    – Wie kommen Sie denn darauf? frage ich.
    – Ich habe auch so ein Gespür, genau wie Sie, antwortet sie, wir sollten einmal darüber reden, wenn Sie wieder bei Kräften sind.

    Ich lache, und sie verlässt den Raum. Als ich die Tür gerade hinter ihr geschlossen habe, klopft sie noch einmal. Ich öffne wieder, und sie wedelt erneut mit dem Meldebogen hin und her.
    – Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet, sagt sie.
    – Stimmt, antworte ich, ich beantworte sie auch nicht, diese Frage ist nämlich für mich nicht zu beantworten.
    – Was soll denn das heißen? fragt sie.
    – Wir reden in ein paar Tagen darüber, antworte ich.

    Sie schaut mich mit leicht verzerrten Gesichtszügen an, als redete ich wirr oder als hörte sie schlecht. Dann atmet sie laut durch und verabschiedet sich.

    – Sie sind ein seltsamer Mensch, sagt sie noch.
    – Ich bin nicht seltsam, antworte ich, ich bin Ethnologe, Sie werden mich schon noch besser verstehen.

    Ich gehe zurück in die Küche und setze mich wieder an den kleinen Tisch. Ledig oder verheiratet? Das ist in der Tat für mich keine leicht zu beantwortende Frage. Was das Thema Frauen betrifft, so habe ich nämlich bisher so einiges erlebt. Ohne in Details gehen zu wollen, kann ich sagen, dass ich drei-oder viermal direkt auf eine Heirat
zugesteuert bin. Jedes Mal lernte ich eine Frau
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher