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Das Kind, Das Nicht Fragte

Das Kind, Das Nicht Fragte

Titel: Das Kind, Das Nicht Fragte
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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der Normalfall eines Touristen, ich bin hier als Ethnologe, und ich werde viel zu tun haben.
    – Gut, wenn das so ist, müssen wir uns etwas anderes ausdenken.

    Sie verlässt das Zimmer und geht wieder hinaus auf den Flur, dort schließt sie eine andere Tür auf. Ein zweiter Rundgang folgt, und diesmal verläuft er durch zwei große Zimmer, zu denen noch eine kleine Küche und ein Bad gehören.

    – Hier wohnen sonst keine Pensionsgäste, sagt die Blonde .
    – Hier wohnen wohl die Verwandten aus Bayern, wenn sie mal vorbeikommen, antworte ich.
    – Stimmt. Aber woher wissen Sie das?
    – Ich bin Ethnologe, ich habe für so was ein Gespür.
    – Ist ja interessant.
    – Ja, das ist interessant. Aber ich will mich nicht damit hervortun, es beruht auf viel Übung und Menschenkenntnis. Gute Ethnologen haben meist etwas Menschenkenntnis.
    – Und Sie sind ein guter Ethnologe?
    – Vielleicht, es wird sich noch herausstellen.

    Sie schaut mich wieder so an, als überlegte sie sich gerade ein paar Fragen zu meiner Person, dann aber erklärt sie nur, dass ich die kleine Wohnung bekommen könne, ohne Aufpreis, für den Preis des Doppelzimmers, das ich reserviert habe. Ich wage nicht zu fragen, warum sie so großzügig ist, stattdessen gehe ich mit ihr wieder hinunter in den Innenhof, wo ich ihr meine Papiere aushändige.

    Als wir an der Rezeption stehen, kommt eine zweite, schwarzhaarige Frau an uns vorbei. Sie grüßt kurz und verschwindet dann hinter einem Vorhang.

    – Das ist meine ältere Schwester, sagt die Blonde.

    Ich antworte nichts, ich nicke, immer wenn ich sehr überrascht, verlegen oder durcheinander bin, nicke ich blöde und stumpf, als wäre bereits alles gesagt. Dabei schießen mir die Fragen und Antworten längst wie Pfeile
durch den Kopf. Auf dem Weg zurück zu meinem Wagen rasen sie sogar so rasch durch mein Hirn, dass ich mich auf einen Mauervorsprung setzen muss, um sie gleich zu notieren: Sind Sie zusammen mit Ihrer Schwester nach Sizilien gekommen? – Ja, wir sind zusammen hierher gereist, als junge Mädchen, die auf Sizilien etwas erleben wollten. – Und dann haben Sie beide hier geheiratet? – Nein, nur ich habe geheiratet, meine Schwester aber nicht, meine Schwester hat hier eine tiefe Enttäuschung erlebt. – Sie war verlobt, und der Verlobte hat sich davongemacht? – Sie glaubte, sie sei verlobt, aber der angebliche Verlobte hatte längst eine andere. – Und in Ihrem Fall hat es besser geklappt mit den Sizilianern? Sie haben einen treuen Mann gefunden? – Ich habe einen Mann gefunden, mehr sage ich nicht. – Aber Sie sind geblieben, hier auf Sizilien, Sie sind trotz aller Enttäuschungen geblieben! – Ja, wir sind geblieben, wir wohnen seit langem zusammen hier …

5
    E S DAUERT einige Zeit, bis ich all mein Gepäck in die Zimmer der Pension gebracht habe. Ich beginne gleich damit, sämtliche Koffer und Taschen auszupacken, und ich richte mir die Zimmer so ein, wie es für meine Arbeit am sinnvollsten ist. Den Schreibtisch rücke ich vor das große Fenster, durch das man über die Dächer der Stadt hinweg bis zum Meer blickt, die beiden Schränke postiere ich dicht nebeneinander in der hintersten Ecke des Schlafzimmers, dann gehe ich in Küche und Bad und verstaue
dort all die Utensilien, die ich für den reibungslosen Ablauf meiner Arbeit unbedingt brauche.

    Zu ihnen gehören kleine Flaschen mit sizilianischem Fruchtsirup, die ich unterwegs, während der Anfahrt auf Mandlica, gekauft habe. Nirgendwo auf der Welt gibt es einen vergleichbaren Orangen-und Zitronensirup, bereits kleinste Mengen der bittersüßen Essenzen entfalten auf der Zunge einen derart intensiven Geschmack, dass man glaubt, die Zunge bade in einem Meer feinsten Öls aus hochreifen Früchten.

    Zum Abschluss meines Auspackens setze ich mich in die Küche, schütte mir ein Glas Leitungswasser ein und gebe einen kleinen Schuss Zitronensirup hinzu. Ich nehme einen ersten Schluck, es ist ein Begrüßungsschluck, ich begrüße den Fruchtkörper Siziliens, ich nehme Kontakt auf zu seinen Aromen und Düften.

    Beim Kosten erinnere ich mich plötzlich an meine Kölner Wohnung unter dem Dach meines Elternhauses. Ihre Küche ist beinahe genauso groß wie diese hier, und auch sonst gibt es starke Ähnlichkeiten zwischen den Kölner Zimmern und den Zimmern in dieser Pension. In Köln trinke ich das Leitungswasser immer mit einem Schluck Sirup von Früchten aus Leichlingen, ich hasse es, pures Wasser zu trinken, kein Getränk
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