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Das Kind, Das Nicht Fragte

Das Kind, Das Nicht Fragte

Titel: Das Kind, Das Nicht Fragte
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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Mineralwasser. Plötzlich erinnere ich mich daran, dass einer der Brüder mir während unserer familiären Mahlzeiten oft Wasser nachgeschenkt hat, während die Brüder Cola, Fanta oder später sogar Kölsch trinken durften. Mir aber gönnte man nur Leitungswasser, das eigens für mich in einer gläsernen Karaffe an meinem Platz stand. Ich mochte dieses Wasser nicht, doch wenn meine Mutter mich aufforderte, es zu trinken, trank ich es, weil eine Weigerung meiner guten Mutter überhaupt nicht gefallen hätte. War mein Glas dann aber irgendwann leer, schenkte ich mir nicht nach. Als ein Zeichen meiner stummen, inneren Vorwürfe ließ ich es vielmehr leer stehen, bis einer meiner Brüder es mit einer pathetischen Geste und einem dummen Kommentar ( Dat Wasser vun Kölle es jot … ) bis zum Rand erneut füllte …

    Ich nehme einen Schluck San Pellegrino und schaue hinauf zur Oberstadt von Mandlica, die ich von meinem Parkplatz jetzt bereits sehe. Da klingelt das Handy ein zweites Mal.
    – Benjamin?! ruft mein Bruder Georg .
    – Ja, antworte ich , ich bin’s, es ist alles in Ordnung.
    – Alles in Ordnung, Benjamin?!
    – Ja natürlich, alles in Ordnung, Georg.
    – Wo bist Du, Kleiner?
    – Auf Sizilien, kurz vor Mandlica.
    – Ist das Dein Forschungsnest, heißt es so?
    – Ja, so heißt es.
    – Kommst Du mit Deinem Mietwagen zurecht?
    – Ja natürlich.
    – Du fährst einen Mercedes?
    – Nein, ich fahre einen Fiat.
    – Wieso das denn? Bist Du verrückt?!
    – Der Fiat gehört mit zum Forschungsprogramm.
    – Soll das ein Witz sein?
    – Nein, der Fiat steht im Dienst der Forschungen.
    – Du forschst über Fiat?
    – Nein, es ist komplizierter.
    – Komplizierter! Natürlich, mein Kleiner, bei Dir ist es immer komplizierter als bei unsereinem.
    – Ja, das stimmt.
    – Kann ich was für Dich tun?
    – Nein, es ist alles in Ordnung, mach Dir keine Sorgen.
    – Ruf mich an, wenn ich etwas für Dich tun kann.
    – Mache ich.
    – Dann drücke ich Dir jetzt die Daumen für Deine Forschungen.
    – Danke, ja, das ist nett von Dir.
    – Und noch eins, mein Kleiner. Lass die Frauen in Ruhe, hörst Du?
    – Wie bitte? Wovon redest Du denn? Wie kommst Du denn jetzt auf so ein Thema?
    – Ich meine ja nur. Auf Sizilien sollte man die Frauen in Ruhe lassen, das weiß sogar ich, und ich bin kein Ethnologe. Die Männer haben dort ein sehr wachsames Auge auf die Frauen,
und wenn dann so ein Fremder daherkommt und ihre Frauen beschnuppert, verpassen sie ihm eins, verstehst Du?
    – Ich verstehe, was Du meinst. Ich bin aber kein Fremder.
    – Bist Du nicht?
    – Nein, ich werde schon bald kein Fremder mehr sein.
    – Mein Gott, Kleiner, mach mir bloß keine Angst.
    – Ich möchte Dir keine Angst machen, ich werde es Dir später einmal genauer erklären. Wir Ethnologen setzen alles daran, während unserer Forschungen nicht als Fremde aufzutreten.
    – Lass die Frauen trotzdem in Ruhe! Versprichst Du es mir?
    – Ich werde die Frauen in Ruhe lassen, das verspreche ich Dir.
    – Bis bald, mein Kleiner.
    – Bis bald, mein Dicker.

    Ich beende das Gespräch rasch, bevor Georg noch etwas sagen kann. Am Ende unserer Telefongespräche bringe ich meist eine kleine Boshaftigkeit unter, an der er dann etwas zu knabbern hat. Ich sage mein Dicker oder mein Alter oder mein Großväterchen (Georg hat bereits zwei Enkel). Ich sehe ihn dann vor mir, wie er den Kopf über mich schüttelt und einmal tief durchatmet. Ich kann ihm so etwas nicht ersparen, ich brauche diese kleinen Spitzen, um mich zumindest noch etwas zu wehren und damit zu beweisen, dass ich nicht bereit bin, mich immer und ewig unterzuordnen.

    Ich stelle die Canti della Sicilia von Rosa Balistreri wieder lauter und fahre dann in langsamen Kurven die steile Straße zur Oberstadt von Mandlica hinauf. Den großen Parkplatz ganz oben neben dem Kastell finde ich sofort. Ich parke und lasse all mein Gepäck bis auf eine Tasche
mit den wichtigsten Wertsachen im Auto. Dann mache ich mich auf die Suche nach meiner Pension, die ich nach langen Recherchen als ersten, vorläufigen Aufenthalts-und Arbeitsort ausgewählt habe. Natürlich frage ich niemanden auf der Straße nach der Adresse, ich tue vielmehr so, als wüsste ich genau, wo ich mich gerade befinde.

    Nach kaum zehn Minuten habe ich die Pension dann auch gefunden und betrete den kleinen Innenhof hinter dem großen, braunen Empfangstor, das ich schon von den Fotografien im Internet her kenne. Ich gehe zur Rezeption und drücke
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