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Das Kind, Das Nicht Fragte

Das Kind, Das Nicht Fragte

Titel: Das Kind, Das Nicht Fragte
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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über Kölner Mietverhältnisse in den fünfziger Jahren unter besonderer Berücksichtigung des Stadtteils Köln-Nippes habilitiert, danach aber keine Professoren-Stelle erhalten. Viermal wurde ich zu einem Vorstellungsgespräch an eine andere Hochschule eingeladen, und viermal landete ich nur auf einem zweiten oder dritten Platz der üblichen Berufungslisten.

    Ehrlich gesagt, war ich nach diesen gescheiterten Berufungsverfahren jedoch meist erleichtert, meine Heimatstadt Köln nicht verlassen zu müssen. Ich sagte das in dieser deutlichen Form aber weder meinen Eltern noch meinen Brüdern, sondern tat immer, als wäre ich tieftraurig über das Scheitern meiner Bemühungen, als ordentlicher Professor für Ethnologie zum Beispiel auf einem Lehrstuhl in Heidelberg zu landen. Selbstverständlich habe ich nichts gegen Heidelberg, ich mag diese Stadt und habe sie auch bereits mehrmals besucht. Bei dem Gedanken aber, in Heidelberg zu wohnen und vielleicht von einem schönen Wohnhaus in Hanglage auf den Neckar zu blicken, fühle ich mich nicht wohl. Die ganze Hanglage ballt sich gleichsam in meinem Magen zusammen und führt dort zu einer spiegelbildlichen Innenhanglage, ein leichter Schwindel überfällt mich, und es kann nichts anderes helfen als die rasche Rückfahrt nach Köln, wo ich in meiner Dachwohnung ein Fenster öffne und hinab auf den großen ovalen Platz mit seinen hohen Pappeln schaue.

    Ich habe über diese seltsamen Verhaltensweisen nie mit einem Menschen gesprochen, ja, ich habe über sehr vieles, was in mir so vorgeht und mich sehr beschäftigt, nie gesprochen. Ich muss zugeben, dass mich diese Zurückhaltung und dieses Schweigen sehr bedrücken, andererseits möchte ich aber auch ausdrücklich betonen, dass ich kein unzufriedener oder nörglerischer Mensch bin. Im Grunde bin ich mit meiner Situation unter dem Dach meines Elternhauses nämlich zufrieden, manchmal bin ich dort sogar ausgesprochen glücklich, und wenn ich Zeit und eine Möglichkeit finde, meinen Studien dann sogar noch im Ausland nachzugehen, kann ich mich erst recht nicht beschweren.

    Als irritierend empfinde ich es nur, dass ich gleichsam noch immer unter der Aufsicht und Kontrolle meiner Brüder lebe. Meine vier Brüder haben es nämlich geschafft, sie verdienen sehr gut bis ordentlich, sie haben Familie, und sie sind Vorsitzende von Vereinen und Organisationen, deren Zusammenkünfte ich nicht einmal aufsuchen würde. Dafür, dass sie mich finanziell unterstützen, verlangen sie von mir Rechenschaft über meine Arbeit und manchmal sogar ein Stück Unterhaltung.

    Georg nennt mich einen frei schwebenden Geist und findet eine solche Klassifizierung auch noch komisch, und Josef kommt bei jeder kleinen Erkrankung bei mir vorbei, um mir eigenhändig die richtigen Medikamente zu bringen (deren Einnahme ich ihm dann noch telefonisch bestätigen muss). Im Grunde behandeln sie mich so, als wären sie an die Stelle meiner Eltern getreten und müssten
weiter auf den Kleinen aufpassen, der im Leben nicht zurechtkommt. Das alles ärgert mich sehr, obwohl ich doch eigentlich anerkennen sollte, dass sie sich nur wohlmeinend um mich kümmern. Das Sich-Kümmern hat aber auch sehr unangenehme und beengende Seiten, von denen meine Brüder nicht einmal etwas ahnen. Manchmal kommt es mir so vor, als führten sie mich an ihren Leinen, und gar nicht so selten verfluche ich ihre scheinbare Hilfsbereitschaft und sehne mich danach, weit von ihnen entfernt in einem einsamen, dunklen Waldgelände in einer Blockhütte zu leben.

    Ich habe noch nie in einer solchen Blockhütte gelebt, ich lebe, wie gesagt, in einer Drei-Zimmer-Wohnung unter dem Dach meines Elternhauses. Alle paar Tage bekomme ich von einem meiner Brüder einen Anruf, angeblich, damit der Kontakt mit mir nicht abreißt. Ich gehe darauf ein, ich bin höflich und freundlich, manchmal mache ich darüber sogar einen Scherz. Doch nicht selten überfällt mich nach einem derartigen Telefonat eine solche Wut, dass ich am liebsten laut aufschreien würde. Ich schreie aber niemals laut auf, sondern ich lege in solchen Momenten zum Beispiel die Canti della Sicilia von Rosa Balistreri auf.

    Rosa und ich – wir verstehen uns. Rosa schreit heraus, was ich fühle, eine Zeitlang war Rosa Balistreri sogar einmal meine Braut.

4
    I CH PARKE meinen Wagen am Straßenrand und warte, bis das Klingeln des Handys aufhört. In kaum fünf Minuten wird Georg erneut anrufen, in der Zwischenzeit trinke ich einen Schluck
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