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Das Kind, Das Nicht Fragte

Das Kind, Das Nicht Fragte

Titel: Das Kind, Das Nicht Fragte
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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etwa acht Jahre alt. Ich sehe mich noch ihr gegenüber an dem Küchentisch unserer Kölner Wohnung sitzen, ich mache Hausaufgaben, ich schreibe einen kleinen Aufsatz für die Schule, und das Thema dieses Aufsatzes ist unsere Wohnung. Wie immer beuge ich den Kopf tief über das Papier, wie immer fahre ich ein wenig mit der Zunge an der trockenen, rauen Unterlippe entlang, und wie immer schreibe ich hoch konzentriert und höre jeden einzelnen Satz in meinem Kopf nachhallen, als hätte ich ihn gerade einer unsichtbaren, fernen Zuhörerschaft vorgelesen.

    Da aber passiert es, und es wirkt anfangs wie eine Unaufmerksamkeit: Ich lese meine Sätze halblaut, ich spreche sie vor mich hin, ich höre mir zu, als wäre ich allein und als säße meine Mutter, die gerade ein Buch liest, nicht neben mir. Ich fürchte mich vor unserem Flur , lese ich halblaut, ich fürchte mich, weil man auf unserem Flur so vielen Menschen begegnet. Die Menschen halten mich an und schauen und fragen mich, ob es mir gut gehe und was ich gerade in der Schule lerne. Ich antworte ihnen nicht, ich laufe in mein Zimmer und schließe mein Zimmer ab. Die Menschen sollen mich in Ruhe lassen, und auf keinen Fall sollen sie mich all das fragen.

    Ich weiß noch, wie meine Mutter damals in ihrer Lektüre innehielt und mich anschaute, und ich weiß noch genau, wie sie mich fragte: Benjamin, warum soll niemand Dich etwas fragen? Warum hast Du Angst davor, etwas gefragt zu werden? Ich schaute auf und erwachte aus meinen diffusen Schreibträumen, ich ließ den Stift fallen
und schloss die Augen, als könnte ich so in ein rettendes Dunkel abtauchen. Dann aber sagte ich: Ich habe oft eine solche Angst vor den anderen Menschen. Sie sollen mich nicht anschauen, sie sollen mich nicht ausfragen. Ich möchte, dass die anderen Menschen an mir vorbeigehen, als wäre ich nicht da, ich möchte, dass sie mich nicht beachten. Ich frage die anderen Menschen doch auch nicht aus, ich habe noch nie andere Menschen ausgefragt.

    Als ich das gesagt hatte, war es sehr still. Meine liebe Mutter legte ihr Buch langsam beiseite und griff vorsichtig nach meinen Händen. Sie hielt meine beiden Hände ganz fest, und sie schaute mich weiter ganz direkt an und sagte: Du fragst nicht, weil Deine großen Brüder immerzu reden und fragen, habe ich recht? Deine großen Brüder lassen Dich nicht zu Wort kommen, Deine großen Brüder haben Dich ängstlich und mundtot gemacht, deshalb sagst Du während der Mahlzeiten nichts, und deshalb antwortest Du, wenn Du etwas gefragt wirst, nur das Nötigste, habe ich recht? Ich nickte, ich gab Mutter recht, so war es bisher gewesen, und so war es noch immer: Meine großen Brüder hatten es mit der Zeit geschafft, mich zu einem schweigsamen und spracharmen Menschen zu machen. Ich fragte niemanden etwas, und die anderen fragten mich nur gelegentlich oberflächliches Zeug. Oder sie fragten mich gleich aus und hörten dann nicht einmal zu, wenn ich kurz antwortete. Mein Gott, sagte Mutter, was können wir denn tun? Wie können wir Dir helfen?

    Zunächst hatte auch sie darauf keine Antwort, die Idee, die ihr etwas später einfiel, war dann aber ebenso einfach
wie wirkungsvoll. Sie hatte nämlich den Einfall, sich alle paar Tage mit mir allein in die Küche zu setzen. Ich bekam einen neuen Füllfederhalter, und ich schrieb mit dem neuen Füllfederhalter in ein neues Schreibheft kleine Aufsätze, die ich ihr während der Niederschrift laut vorlas. Wir machen es genauso wie neulich, als Du mir aus Versehen laut vorgelesen hast. Du schreibst und liest vor, und ich lese und höre Dir zu. Und dann sprechen wir beide über das, was Du geschrieben hast.

    Wir waren beide keineswegs sicher, ob dieses Vorhaben wirklich gelingen und Erfolg haben würde. Als ich dann aber den neuen Füllfederhalter und das neue, große Schreibheft in Händen hielt, war ich von Mutters Idee so begeistert, dass ich von selbst darauf drängte, nun auch schreiben zu dürfen. Mutter gab mir die Themen vor, und diese Themen hatten immer etwas mit unserem Leben zu tun. Wir begannen mit den verschiedenen Räumen der Wohnung ( Unsere Küche, Mein Zimmer ), gingen dann zu den Personen über ( Mein Vater, Meine Brüder, Die Leute im Haus ) und bewegten uns schließlich nach draußen, ins Freie, wo es an Themen keinerlei Mangel gab ( Meine Schule, Meine Klassenkameraden, Meine Spielplätze ).

    Heute kann ich sagen, dass die Schreib-und Gesprächsstunden mit meiner Mutter zu den schönsten meiner
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