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Das Kartengeheimnis

Das Kartengeheimnis

Titel: Das Kartengeheimnis
Autoren: Jostein Gaarder
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versuchte er es bei Tante Ingrid, die nur wußte, daß Großmutter plötzlich zu einer Reise in die Alpen aufgebrochen war.
    Als ich das hörte, stieß ich einen lauten Pfiff aus.
    »Brötchenmann ruft in magisches Rohr, und seine Stimme reicht viele hundert Meilen.«
    Mein Vater machte ein Gesicht, als suchte er die Antwort auf alle Rätsel der Welt auf einmal.
    »Hast du nicht genau diesen Satz schon mal gesagt?« fragte er.
    »Yes, Sir«, antwortete ich. »Es ist nämlich nicht ausgeschlossen, daß auch der alte Bäcker spürte, daß er seinem eigenen Enkel gegenüberstand. Er hat dich übrigens auch gesehen, und Blut ist dicker als Wasser, wie man so sagt. Aber vielleicht ist er auch nur auf die Idee gekommen, daß er nach all den Jahren doch mal einen kleinen Anruf in Norwegen wagen könnte – wo ihn gerade ein Junge aus Arendal in seinem Laden besucht hatte, meine ich. Und dann ist es nicht ausgeschlossen, daß eine alte Liebe in Dorf ebensogern wiederauflodert wie in Athen.«
    Wir machten also den Umweg über Dorf. Weder Mama noch Vater hielten den alten Bäcker für meinen Großvater, aber sie wußten, daß ich nie mehr Ruhe geben würde, wenn sie die Sache nicht genauer unter die Lupe nahmen.
    In Como übernachteten wir wieder im Hotel »Baradello«. Der Jahrmarkt war verschwunden – samt Wahrsagerin und allem. Ich tröstete mich damit, daß ich auch hier ein Einzelzimmer bekam. Obwohl ich nach der langen Fahrt müde war, beschloß ich, vor dem Schlafengehen noch den Rest des Brötchenbuches zu lesen.

HERZ ACHT
    ... ein so phantastisches Wunder, daß man nicht weiß, ob man lachen oder weinen soll...
     
     
     
    Ich stand auf und trat ins Freie. Es war nicht leicht, ruhig zu gehen, denn überall in meinem Körper kämpften Geschmäcke um meine Aufmerksamkeit. Während sich mir die herrlichste Erdbeercreme über die linke Schulter legte, stach mich eine säuerliche Mischung aus Roter Johannisbeere und Zitrone ins rechte Knie. Alles jagte so schnell und so oft durch meinen Körper, daß ich manches gar nicht identifizieren konnte. Es war, als nähme ich an allen Mahlzeiten aller Menschen auf der Welt gleichzeitig teil.
    Ich machte einen kleinen Spaziergang durch den Wald oberhalb des Hauses. Als sich der Sturm in meinem Innern allmählich legte, überkam mich ein Gefühl, das mich seither niemals verlassen hat: Als ich mich umdrehte und über das Dorf hinschaute, ging mir zum ersten Mal auf, was die Welt für ein unfaßbares Wunder ist. Wie ist es zu erklären, fragte ich mich, daß wir Menschen sein dürfen? Es kam mir wie eine gänzlich neue Entdeckung vor – und doch hatte, was ich da entdeckte, seit meiner frühesten Kindheit offen zutage gelegen. Mir war, als hätte ich mein bisheriges Leben im Schlaf gelebt, als wäre es nur ein jahrelanger Schlummer gewesen.
    Ich existiere! dachte ich. Ich bin eine springlebendige Person unter dem Himmel! Zum ersten Mal in meinem Leben begriff ich, was ein Mensch ist. Und ich wußte gleichzeitig, ich durfte nicht mehr von der seltsamen Purpurlimonade trinken, sonst würde, was ich jetzt empfand, mit jedem Schluck mehr verblassen, bis es schließlich ganz verschwunden wäre. Ich hätte bald von allem auf der Welt so oft und viel gekostet, daß ich unweigerlich damit verschmelzen würde. Und am Ende hätte ich gar keine Empfindungen mehr: Ich wäre wie eine Tomate – oder wie ein Pflaumenbaum.
    Ich setzte mich auf einen kleinen Baumstumpf, und bald kam ein Reh geschlichen. Das war nichts Besonderes; in den Wäldern um Dorf gab es viele Rehe. Aber ich konnte mich nicht erinnern, je gesehen zu haben, welches Wunder so ein lebendes Wesen ist. Natürlich hatte ich schon Rehe gesehen, fast jeden Tag. Aber ich hatte nicht begriffen, wie unergründlich geheimnisvoll jedes einzelne von ihnen ist. Jetzt begriff ich auch, warum das so gewesen war: Ich hatte mir keine Zeit gelassen, die Rehe zu erleben, eben weil ich schon so viele gesehen hatte.
    So ist es mit allem, dachte ich, so ist es mit der ganzen Welt. Solange wir Kinder sind, haben wir noch die Fähigkeit, die Welt um uns herum zu erleben. Doch dann wird uns die ganze Welt zur Gewohnheit. Kind zu sein und aufzuwachsen, dachte ich, ist wie sich an Empfindungen, an Sinneserlebnissen zu betrinken.
    Jetzt wußte ich auch, was mit den Zwergen auf der magischen Insel geschehen war: Sie hatten sich dagegen gesperrt, die tiefsten Geheimnisse des Daseins zu erleben – vielleicht, weil sie niemals Kinder gewesen waren. Wenn
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