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Das Kartengeheimnis

Das Kartengeheimnis

Titel: Das Kartengeheimnis
Autoren: Jostein Gaarder
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Purpurlimonade, mein Sohn. Seit zweiundfünfzig Jahren hat niemand sie mehr angerührt, und jetzt werden wir zwei die Flasche nach unten ins Wohnzimmer bringen.«
    Er bückte sich und hob die Flasche hoch. Als er sie schräg hielt, sah ich, daß die Flüssigkeit darin so schön war, daß mir die Tränen kamen. Als wir gerade wieder durch die Bodenluke steigen wollten, entdeckte ich das Holzkistchen mit dem Kartenspiel.
    »Darf ich... es sehen?« fragte ich.
    Der Alte nickte feierlich, und ich nahm die abgegriffenen Spielkarten in die Hand. Ich sah die Herz Sechs und die Kreuz Zwei, Pik Dame und Karo Acht... Ich zählte durch und fand, daß eine Karte fehlte.
    »Es sind nur einundfünfzig«, sagte ich.
    Der Alte sah sich um.
    »Da!« sagte er und zeigte unter einen alten Hocker. Ich bückte mich nach der Karte, die dort lag, und legte sie wieder zu den anderen. Es war das Herz As.
    »Sie verirrt sich immer noch. Aber ich finde sie immer irgendwo wieder.«
    Ich legte die Karten zurück in ihr Kistchen, und wir stiegen die Leiter hinunter. Im Wohnzimmer angekommen, holte Albert ein Schnapsglas und stellte es auf den Tisch.
    »Du weißt, was jetzt kommt«, sagte er, und ich nickte. Ich war der nächste, der die Purpurlimonade kosten sollte. Vor mir hatte, vor genau zweiundfünfzig Jahren, Albert hier gestanden und das rätselhafte Getränk probiert, und vor ihm, wieder zweiundfünfzig Jahre früher, hatte der Bäcker-Hans auf der magischen Insel Purpurlimonade getrunken.
    »Aber vergiß nicht«, sagte jetzt Albert, »du bekommst nur diesen einen kleinen Schluck. Und dann wird eine ganze Patience gelegt, ehe du den Stöpsel wieder aus der Flasche ziehst. So wird die Flasche noch für viele Generationen reichen.«
    Er goß ein winziges Schlückchen in das Glas.
    »Bitte sehr«, sagte er und reichte es mir.
    »Ich weiß nicht... ob ich mich traue«, sagte ich.
    »Du weißt, daß du mußt«, entgegnete Albert. »Denn halten die Tropfen nicht, was sie versprechen – tja, dann kann der alte Albert Klages auch ein kranker Mensch sein, der dir die ganze Nacht lang Lügenmärchen aufgetischt hat. Und das will nicht einmal der alte Bäcker auf sich sitzen lassen, verstehst du. Denn auch wenn du an der Geschichte jetzt nicht zweifelst, wird sich der Zweifel eines Tages doch einstellen. Deshalb ist es so wichtig, daß du den Geschmack der Geschichte im ganzen Körper erlebst. Nur dadurch kannst du der neue Bäcker in Dorf werden.«
    Ich setzte mich vor den Kamin und hob das Glas an den Mund. Ich trank die wenigen Tropfen – und in Sekundenschnelle fand mein Körper sich in eine Manege des Wohlgeschmacks verwandelt. Ich schien mich gleichzeitig auf allen Marktplätzen dieser Welt zu befinden. In Hamburg steckte ich mir eine Tomate in den Mund, in Lübeck biß ich in eine saftige Birne, in Zürich verzehrte ich Trauben, in Rom aß ich Feigen, in Athen gab es Mandeln und Nüsse und in Kairo Datteln. Und noch viele, viele andere Geschmäcke jagten mir durch den Leib, manche von ihnen so fremd, daß ich glaubte, über die magische Insel zu wandern und ihre seltsamen Früchte von den Bäumen zu pflücken. Das sind Tufafrüchte, dachte ich, das muß Ringrübe sein und das Kurbeere. Doch das war noch immer nicht alles. Plötzlich glaubte ich, wieder in Arendal zu sein. Ich glaubte, deutlich den Geschmack von Preiselbeeren und den Duft von Lines Haaren zu erkennen.
    Wie lange ich so vor dem Kamin saß, weiß ich nicht. Ich glaube, ich sagte die ganze Zeit kein Wort zu Albert. Und schließlich war er es, der sich erhob und das Schweigen brach.
    »Der alte Bäcker braucht jetzt ein wenig Schlaf. Aber erst stelle ich die Flasche zurück auf den Dachboden, und du kannst mir glauben, den schließe ich immer gut ab. Und, nun ja, du bist ja wohl auch ein erwachsener Mann. Obst und Gemüse können gesund und lecker sein, alter Krieger – aber deshalb willst du selber noch lange nicht zum Gemüse werden.«
    Heute weiß ich nicht mehr genau, ob es wirklich das Bild war, das er benutzte. Ich weiß nur, daß er mich ermahnte, ehe er schlafen ging – und daß es um die Purpurlimonade und Frodes Patiencekarten ging.

HERZ SIEBEN
    ... Brötchenmann ruft in magisches Rohr...
    Erst, als ich am späten Vormittag erwachte, wurde mir bewußt, daß der alte Bäcker, den ich in Dorf kennengelernt hatte, mein eigener Großvater war. Denn die geschorene Frau konnte niemand anders sein als meine Großmutter zu Hause in Norwegen. Oder war das alles doch nicht so
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