Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Känguru-Manifest

Das Känguru-Manifest

Titel: Das Känguru-Manifest
Autoren: Marc-Uwe Kling
Vom Netzwerk:
stehen wir am oberen Bahnsteig des U-Bahnhofes Kottbusser Tor und warten auf die Bahn. Das Känguru stützt sich auf sein Fahrrad.
    »Meines Erachtens fährt um zwei Uhr nachts keine Bahn mehr«, sage ich.
    »Werden wir ja sehen«, sagt es.
    Ich schlurfe zum Aushang und zurück.
    »Meines Erachtens und laut Fahrplan fährt um zwei Uhr keine U-Bahn mehr.«
    »Unsere U-Bahn hält sich an keinen Fahrplan«, sagt das Känguru.
    »Verstehe«, sage ich.
    An einer goldenen Kette zieht es eine Taschenuhr aus seinem Beutel.
    »Jetzt«, sagt es.
    Nichts passiert.
    »Jetzt«, sagt es noch einmal.
    Wieder passiert nichts. Dann hechtet Krapotke die Treppe hinauf.
    »Bin ich zu spät?«, ruft er.
    »Herr Generalfeldmarschall«, sage ich grüßend.
    »Herr Hauptmann«, sagt Krapotke.
    Das Känguru schüttelt genervt den Kopf.
    »Jetzt«, sagt es.
    Nichts passiert.
    »Ich wär dann so weit«, sagt Krapotke.
    Eine U-Bahn rauscht in den Bahnhof. Auf der Anzeigetafel leuchtet: »Bitte nicht einsteigen«. Vorn auf der U-Bahn steht: »Betriebsfahrt«.
    »Halt mal kurz«, sagt das Känguru zu Krapotke, reicht ihm das Fahrrad und steigt vorne ein. Ich folge dem Känguru. Krapotke folgt mir.
    Plötzlich knackt der Lautsprecher.
    »Krk. Mit dem Fahrrad nicht in den ersten Wagen! Krk.«
    Einige Sekunden später fährt die Hochbahn los und nimmt ihren gewohnten Weg durch die Berliner Nachtluft. Im ersten Wagen ist die Versammlung in vollem Gange. Otto reicht dem Känguru gerade eine Tofu-Bratwurst. Ich drehe mich um und winke Krapotke, der mit dem Fahrrad allein im zweiten Wagen sitzt. Friedrich-Wilhelm gibt mir durch ein Zeichen zu verstehen, dass dicke Luft herrscht. Ich blicke mich um.
    »Wo ist Gott?«, frage ich flüsternd.
    »Gott ist nie da, wenn man sie wirklich braucht«, sagt Friedrich-Wilhelm. »Ist dir das noch nie aufgefallen?«
    »Herr Hauptmann!«, ruft mich die große Vorsitzende an. Sie hat anscheinend gerade das Wort. »Von den anderen Spinnern ist ja nichts Besseres zu erwarten … aber dass Sie sich für so einen Unsinn hergeben … Das hätte ich nicht gedacht.«
    »Unsinn?«, frage ich.
    »Jawohl, Unsinn«, sagt die Große Vorsitzende. »Es muss Ihnen doch klar gewesen sein, dass man in unseren Zeiten nicht einfach irgendwo einbrechen und ein paar Computer zerstören kann, um eine Datenbank zu vernichten. Es war doch klar, dass es vom Produktivitätsregister eine Sicherungskopie gibt.«
    »Eine Sicherungskopie?«, frage ich fassungslos. »So etwas habe ich noch nie gemacht!«
    »Und nicht nur eine Sicherungskopie«, sagt der Geheimagent. »Es gibt wahrscheinlich Dutzende, Hunderte, Tausende. So ist das in der heutigen Zeit. Wenn man die Daten erst mal gesammelt hat, wird man sie nie wieder los.«
    »Ich kenne niemanden, der ernsthaft Sicherungskopien macht«, sage ich schockiert.
    »Die ganze Aktion war völlig sinnlos!«, ruft der Professor.
    »Also … äh … ich … äh … tja … äh …«, stammle ich.
    »Da fällt mir ein Gleichnis ein«, sagt der Messias. »Eine alte Frau stand an einem Fluss. Sie hatte bei sich einen Laib Brot, eine Gans und einen Fuchs, aber kein Boot. Ja, äh …«
    »Ville red er nich, aba wat er sacht, is Quatsch«, sagt die Amazonenkönigin.
    »Was der Hauptmann und der Messias damit sagen wollten, ist Folgendes«, sagt das Känguru und dreht sich in der Bahn, um sicherzugehen, dass es die ungeteilte Aufmerksamkeit aller Anwesenden hat. »Sie wollten sagen: ›Ja, es war Unsinn!‹«
    Man kann die Spannung im Waggon förmlich spüren.
    »Unser Tun war Unsinn«, ruft es. »Es war leuchtend ineffizient, es war grandios unprofessionell, es war absolut chaotisch, es war total unproduktiv. Aber sinnlos? Nein! Es war …«
    Das Känguru macht eine dramatische Pause.
    »Es war ein Zeichen!«, ruft es. »Gerade in seiner ineffizienten, unprofessionellen, chaotischen Unproduktivität war es ein Zeichen!«
    Spontaner Applaus brandet auf.
    »Es war ein Fanal!«, ruft das Känguru. »Ein Fanal! Asoziale aller Länder, vereinigt euch!«

Ich gähne und nehme einen kleinen Schluck Kräutertee. Das Radio läuft.
    »Und nun die Nachrichten« , sagt der Nachrichtenmann. »Der Friedensnobelpreis geht dieses Jahr an Batman aus Gotham City.«
    Das Känguru kommt in die Küche.
    »Da Batman nicht zu erreichen war und sowohl Christian Bale (›Keine Lust‹) als auch George Clooney (›Keine Zeit‹) absagten, wurde heute die Medaille in Oslo stellvertretend an Val Kilmer überreicht. Kilmer sagte, die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher