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Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Titel: Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman
Autoren: Gunter Gerlach
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seines Körpers. Das flaue Gefühl im Magen verzog seinen Mund zu einem breiten Grinsen. Erst jetzt dachte er an den Flugzeugabsturz und wunderte sich, daß die Erinnerung nicht gleich gekommen war, denn auch damals hatte ihn die Fliehkraft gepackt. Allerdings war er ohnmächtig geworden ... Er lachte laut, um die Bilder abzuschütteln. Er war ein Glückspilz.
    Er stützte sich mit den Händen gegen die Dachkante des Wagens und betrachtete unter seinem Arm hindurch den Schaden am Hinterteil des BMWs. Das Blech war tief eingedrückt und blockierte den Reifen. Die Stoßstange hing schräg. Er würde nicht weiterfahren können. Er sah an sich herunter, doch seine Kleidung war nicht zerfetzt, sein Schoß nicht blutig, so wie damals, als er auf der vom Flugzeug in den Wald gerissenen Schneise aus der Ohnmacht erwacht war.
    Er löste sich von dem Wagen, ging einmal langsam um ihn herum. Nein, damit konnte er nicht mehr fahren. Er überquerte die Straße, setzte sich auf einen am Rand liegenden großen Feldstein und lauschte. Nichts als das Summen von Insekten. Keine Autogeräusche. Er ärgerte sich über seine Unachtsamkeit. Nicht einmal an den letzten Wegweiser konnte er sich erinnern, geschweige denn, wie lange es her war, daß er eine Ortschaft durchfahren hatte.
    Er betrachtete die Umgebung, eine Landschaft, die ihm unter anderen Umständen reizvoll erschienen wäre, so aber vermittelten die grünen, Ende Mai noch kurz bewachsenen Felder beidseitig der Straße und die dahinter sich sanft erhebenden bewaldeten Hügel nur ein Gefühl von Einsamkeit und Hilflosigkeit. Keine Kirchturmspitze streckte sich in der Ferne über die Bäume, keine Reklametafel am Straßenrand kündigte ein Gasthaus, die nächste Tankstelle oder Autowerkstatt an. Für einen Städter begann in solcher Verlassenheit bereits ein Survival-Training.
    Er erinnerte sich an das Geräusch der Hubschrauber, an die Hektik und an das Entsetzen im Gesicht der Retter. Sie hatten ihm den Tod seiner Eltern schonend mitteilen wollen. Er wußte es schon beim ersten Wort. Er hatte überlebt, weil er aus dem Flugzeug geschleudert worden war.
    Es war ihm kaum gelungen, um seine Eltern zu trauern. Sie hatten ein Leben ohne ihn geführt. Er war immer nur zu Besuch gewesen.
    Zwar heilten seine Verletzungen schnell, doch als ihm die Ärzte eine zweite, winzig kleine Operation (Sie verstehen, geradezu lächerlich!) vorschlugen, begriff er, daß es ihn zum Gespött machen könnte, wenn jemand davon erfuhr.
    Er erhob sich von dem Feldstein, als auch nach zehn Minuten noch kein Auto vorbeigekommen war, und entschied sich, die Straße zurückzugehen. Er schloß seinen Wagen ab und hatte sich kaum zehn Meter entfernt, als er sich abrupt umdrehte und doch in die andere Richtung marschierte.
    Er vermochte später nicht mehr zu sagen, was diesen plötzlichen Sinneswandel bewirkt hatte, doch der Entschluß änderte nicht nur sein gesamtes Leben, sondern beschleunigte in dem knapp drei Kilometer entfernt liegenden Dorf Herzensach erneut eine Entwicklung, die bei den letzten Malen mit einem Toten geendet hatte.
    Herzensach, benannt nach dem gleichnamigen Flüßchen, in dessen Biegung es lag und dessen Name den wenigen Reisenden Gelegenheit gab, darüber zu spekulieren, ob es sich um einen leidvollen oder freudvollen Ausdruck handle, und der in einer Untersuchung der Kreisverwaltung Weinstein hinsichtlich der für den Tourismus zu fördernden Gebiete des Kreises so schlecht weggekommen war, sollte Schlagzeilen machen.
    Grund für Schlagzeilen hätte es bereits vor mehr als zweihundert Jahren gegeben, als das Herzensacher Tal durch einen Schenkungsakt des Grafen Weinstein in den Besitz des holländischen Piraten Cornelius van Grunten überging. Aus Angst vor den van Gruntens sprach man damals über die wahre Ursache der Besitzübertragung nicht. Heute erzählt sie der junge Gutsherr Jan van Grunten seinen Gästen mit besonderem Vergnügen und in immer neuen Ausschmückungen. (Der Pastor empfindet das als Geschmacklosigkeit.) Aber wer kann schon einen waschechten Freibeuter zu seinen Ahnen zählen? Besagter Cornelius van Grunten stand Mitte des achtzehnten Jahrhunderts als Kapitän in den Diensten der spanischen Krone, doch soll er es mit Freund oder Feind nicht so genau genommen haben, Hauptsache, die unter der Totenkopfflagge eingenommene Beute stimmte. Als er 1761 ein englisches Schiff – in der Annahme, es habe Gold geladen – kaperte, fielen ihm einige adlige Passagiere in die
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