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Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Titel: Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman
Autoren: Gunter Gerlach
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Autobahn in Richtung Süden war dicht. Wir standen im Stau oder fuhren in einer Kolonne. Vor Salerno nahm ich die Abzweigung zum Meer. Nach der Ausfahrt Vietri gab es einen kleinen Parkplatz hoch über der Stadt. Ich hielt an, und wir stiegen aus. Der Blick ging hier die Küste entlang in Richtung Amalfi und Positano.
    »Ist es nicht wunderschön?«
    »Ja, dahin müssen wir noch«, sagte sie. »Die Straße dort. Siehst du sie?«
    »Unter einer Bedingung.« Ich betrachtete ihr felsengraues Haar.
    Sie hob die Brauen.
    »Ich hätte dich gern wieder mit rotem Haar.«
    »Du willst etwas wiederholen?«
    »Es war wunderbar, wenn die Sonne in meinem Bett aufging.«
    Wir fuhren weiter und verließen die Autobahn, um an der Küste entlangzufahren. An den Stränden und in den Orten war Hochbetrieb. Überall hatte sich die Zahl der Bewohner verdoppelt, mancherorts sicher auch verdreifacht. Eine Spezies mit Gummilatschen, Sporthosen und knappen T-Shirts beherrschte das Bild. So viele Touristen bevölkerten die Straßen, dass ich manchmal nur im Schritttempo durch die Orte fahren konnte.
    Schließlich standen wir vor Wachses Wohnung. Sie wohnte dort nicht mehr. Eine neapolitanische Familie war eingezogen. Sie wussten nichts von der Vormieterin, hatten sie nie gesehen.
    Auch der Vermieter war nicht anzutreffen, aber seine Frau wusste, wo die kleine Signora abgeblieben war. Ein Stück außerhalb, an der Straße nach Lagonegro, hatte sie ein Haus gemietet. Sie beschrieb uns die genaue Lage. Es war dicht an dem Schatten.
    Wir klopften. Sie öffnete nicht. Vielleicht war sie auf dem Berg, saß in der Mulde. Doch dann huschte ein Gesicht hinter einem Fenster vorbei. Wir hämmerten an die Tür und riefen ihren Namen. Nach einer Weile kam Wachses Stimme dünn durch das Holz.
    »Was wollt ihr?«
    »Mein Gott, Wachse, mach schon auf.«
    »Nein, nein, es geht gerade nicht. Ihr müsst ein anderes Mal wiederkommen.«
    »Was ist los?«
    »Es ist alles in Ordnung. Ich brauche nur noch ein paar Tage. Geht wieder weg.«
    »Wachse, wenn du nicht öffnest, schlage ich die Tür ein.«
    Die Tür tat sich einen kleinen Spalt weit auf.
    »Da bin ich.« Ein Teil ihres Gesichts war zu sehen. »So, nun geht wieder.«
    Ich drückte die Tür auf. Wachse wich zurück. Sie hatte ein großes schwarzes Tuch um die Schultern und um den Körper gewickelt, war größer geworden. Etwa fünfzehn Zentimeter. Ihr Gesicht hatte eine längliche Form bekommen. Risse zogen sich über ihre Haut, mündeten in mehrere kleine Wunden. Sie war blass, ihr Haar hatte die Farbe verloren.
    »Guck mich nicht so an«, sagte sie und ging ins Haus. Wir folgten. In den Räumen waren die Fenster verhängt.
    »Es funktioniert also?«, fragte ich.
    »Ja.«
    »Aber es hat Nebenwirkungen?«
    »Ganz wenige nur.«
    »Lass sehen.«
    »Nein.« Sie schüttelte den Kopf. Aber Scotty war hinter sie getreten und nahm ihr das Tuch ab. Auch auf Wachses Armen war die Haut gerissen, blutete leicht. Ihre zu eng gewordene Bluse war voller roter Sprenkel. Die unverletzten Stellen ihrer Haut waren von einem papiernen Weiß mit darunterliegenden schwachen blauen und roten Streifen.
    »Du musst sofort damit aufhören.«
    »Nein, noch zehn Zentimeter, dann ist es genug. Ich verspreche es. Aber zehn Zentimeter müsst ihr mir noch gönnen.«
    Scotty untersuchte sie. Wachse ließ es zu.
    »Lass mich wenigstens so groß werden wie du.«
    Scotty schüttelte den Kopf. »Es wächst nicht alles gleichzeitig. Die Haut ist dünn. Wachse, du musst dich von einem Arzt untersuchen lassen. Unbedingt.«
    »Ja, mache ich, in ein paar Tagen. Nur ein paar Tage noch. Das ist doch nicht zu viel verlangt. Außerdem heilen die Wunden von ganz allein.«
    »Wachse, du stirbst am Wachstum, wenn du weitermachst.«
    Sie entzog sich uns, ging in einen hinteren dunklen Raum.
    »Ihr wollt nicht, dass ich werde wie ihr.«
    »Doch, aber was du machst, ist wie eine Überdosis.«
    Wir redeten auf sie ein. Schließlich erklärte sie sich bereit, ihre Tortur zu unterbrechen. In ein Flugzeug wollte sie mit ihren vielen Wunden nicht steigen. Wir beschlossen, mit dem Wagen bis nach Deutschland zurückzufahren.
    Nach der Abfahrt schlief Wachse sofort auf der Rückbank ein. Sie war vollkommen erschöpft.
    Wir erreichten die Autobahn. In Richtung Norden hatten wir freie Fahrt.
    »Dein Bruder, sein Bein, verstehst du? Du musst ...«, begann Scotty.
    »Nein. Muss ich nicht.«
    Sie schwieg. Ich fuhr Höchstgeschwindigkeit.
    Als sie mich am Steuer
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