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Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Titel: Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman
Autoren: Gunter Gerlach
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Zeigefinger zweimal auf meine Nasenspitze, als wäre sie ein Klingelknopf.
    »Übrigens, ich werde dafür bezahlt, bei dir zu sein«, sagte sie.
    Selbst an unserem siebten Tag stand ich noch unter dem Einfluss dieses Blickes. Er machte mich taub, tauber, als ich schon war. Eine geringe Empfindlichkeit bestimmter Sinne hatte ich bereits mein Leben lang. Manche Worte erreichten mich nur gedämpft, verloren ihre Bedeutung auf dem Weg zu mir. Auch beim Sehen hatte ich oft Schwierigkeiten. Manche Dinge, die jeder bemerkte, sah ich nicht, anderes prägte sich mir dafür mit einer Schärfe ein, die mir manchmal das Wasser in die Augen trieb. Tränen. Ein Ereignis, das mir als Ergebnis von erlebten Gefühlen nicht gelang. Mein Mangel an Emotionen wurde durch Deutlichkeit im Erkennen von Strukturen und Farben ausgeglichen. Ich nutzte diese Fähigkeit für mein Hobby, das Buchstabensammeln, denn kaum jemand sah, was ich sah.
    Früher hatte ich gedacht, meine Sehnerven und mein Trommelfell wären durch die Schläge meines Großvaters verletzt. Augenärzte untersuchten mich, Ohrenärzte leuchteten mir die Gehörgänge aus. Mein Gehirn wurde nach den modernsten Methoden getestet. Alles in Ordnung. Die Einschränkung blieb.
    Bei Scotty kam etwas hinzu. Der Blick aus ihren gelbgrünen Pupillen. Ein leichtes Betäubungsmittel, eine unbewusste Form der Hypnose. Aber nicht nur ihre Augen, ihr gesamter Körper, ihre Gegenwart bewirkten etwas in mir, für das ich keinen Namen hatte. Richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf mich, löste das bei mir einen kurzen Schwindelanfall aus. Etwas vollkommen Neues.
    Eine Frau in meinem Bett. Das gab es nicht oft. Und nie so lange Zeit am Stück. Vielleicht war es schon nicht mehr mein Bett, sondern ihres. Gewohnheitsrecht.
    Ich versuchte mich zu konzentrieren. Aber ihre Worte waren schon verschwunden. Meine Augen hingen an der Landschaft ihrer Ohrmuschel.
    »Ja«, antwortete ich. Vermutlich hatte sie nur eine dieser Sinnlosigkeiten von sich gegeben, um ihre Bereitschaft zu signalisieren, sich lieben zu lassen. Die vergangenen Tage waren damit ausgefüllt gewesen. Dass Frauen wirklich so sein können wie in den Filmen, das hatte ich nicht erwartet. Und ich ahnte nicht, dass es eine Frau geben würde, mit der ich das tagelang tun wollte, ohne mich zu langweilen.
    Sie hob den Kopf, schob die Haut über der Nasenwurzel zu ein paar Falten zusammen. Ich kenne jede Mimik und kann sie deuten, auch wenn ich die Empfindungen, die sie ausdrücken, selbst nicht erfahre. Meine Antwort musste falsch gewesen sein. Sie schüttelte die roten und gelben Strähnen ihres Haares. Mein Onkel Frederik lackierte seine Wagen mit solchen Flammen, fuhr damit auf zwei Reifen, übersprang Flüsse wie ein Feuerball.
    »Hast du verstanden, was ich gesagt habe?« Sie stützte den Kopf auf. Ihre Lippen wölbten sich, schoben sich nach rechts und links, bewegten sich wie die schnüffelnde Nase eines Hundes. Sie senkte den Kopf und schloss den Haarvorhang. Die Nase blieb draußen. Ich folgte dem Schwung des Nasenrückens, die ideale Form einer Schanze für Skispringer. Als ich meinen Onkel Frederik Godin das letzte Mal sah, sprang er, nur mit einem Betttuch als Fallschirm, vom Dach eines Hochhauses. Ein Trick. Das muss rund zwanzig Jahre her sein. Er war mit dieser Nummer für die Eröffnung eines Kaufhauses engagiert worden. Natürlich war niemand anders von meiner Familie gekommen. Keiner mochte Frederik und seine Aktionen. Mein Großvater fluchte über ihn. Onkel Frederik besaß eine kleine Autowerkstatt. Sie brachte nicht genug ein. Er lebte davon, sein Leben zu riskieren. Das gefiel mir. Inzwischen müsste er sechzig Jahre oder älter sein.
    »Ich zähle jetzt bis drei, und dann wirst du aus der Hypnose aufwachen«, sagte Scotty. Sie lächelte ein wenig, so als hätte sie Schmerzen. Dann streckte sie ihre Hand aus und wedelte vor meinem Gesicht.
    Früher fragte ich mich, ob es mir wohl gelänge, die Menschen in meiner Umgebung umzubringen. Scotty war die Erste, die ich leben lassen würde.
    Ich versuchte es mit einem Nein. Es war auch nicht die richtige Antwort.
    Ich hatte Scotty vor einer Woche in einem Hotel getroffen. Wir waren seitdem zusammen, meist im Bett. Sie sagte, sie handele mit Antiquitäten. Für ein paar Stunden am Tag verschwand sie, um sich umzuziehen. Dabei wechselte sie von Tag zu Tag zwischen vollständig roten engen Kleidungsstücken und weiten weißen Kleidern. Aus einem dünnen roten H wurde ein schwingendes
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