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Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Titel: Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman
Autoren: Gunter Gerlach
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von den wirklich Fleißigen im Dorf. Die meisten Herzensacher waren faul, und manchmal fragte sich der Arzt, wie sie existieren konnten. Er betrachtete die Rippen und die faltige Haut darüber. Er fürchtete, sein Aussehen werde sich im Lauf der Jahre ebenso verändern. Hunde waren da anders. Wie alt mochte Trivial sein?
    Der Bauer trug nur noch seine Hose, hielt sie mit den Händen fest. Die derben Schuhe hatte er abgestreift. Sie lagen schräg unter der Liege, und Doktor Andree kräuselte leicht die Nase. Der Bauer war in Kuhmist getreten.
    »Trivial«, murmelte der Arzt. Der Hund hatte sich zum Maskottchen der Herzensacher entwickelt. Sonntags zum Gottesdienst saß er regelmäßig vor dem Kirchenportal und wartete. Anfangs hatten die Kirchenbesucher ihn beim Verlassen der Kirche heimlich berührt, heute tat es jeder ganz offen, strich dem Tier mit Daumen und Zeigefinger über die Kante des Ohrs. Trivial ließ es sich gefallen, schien sogar deshalb vor der Kirche zu sitzen. An dem Aberglauben, sich durch diese Handlung ein Leben in Sicherheit und Glück zu verschaffen, war der Arzt nicht ganz schuldlos. Mit vier Jahren hatte sich seine Tochter Anne bei einem Spaziergang durch den Ort von seiner Hand losgerissen, war auf die Straße gelaufen, gerade in jenem Moment, als ein Lastwagen aus Weinstein mit überhöhter Geschwindigkeit die Herzensacher Dorfstraße entlangdonnerte. Trivial war mit einem Satz hinter Anne hergesprungen, hatte die Träger ihrer Spielhose geschnappt und sie davor bewahrt, überfahren zu werden.
    Unruhig ging Doktor Bernhard Andree zum Fenster zurück. Dort, am Ende der Straße, war es geschehen. Immer wieder mußte er gegenüber seiner Frau seine Unschuld beteuern. (Glaub mir doch, sie hat sich losgerissen, wirklich!) Seine Frau jedoch zweifelte, richtete es von dieser Zeit an ein, daß er nicht mehr mit den Kindern allein spazierenging – weder mit der inzwischen zwölfjährigen Anne noch mit der zehnjährigen Katja. Ein stummer Vorwurf über all die Jahre. Trivial aber besaß seit diesem Vorfall einen Freiraum, und immer mehr Legenden rankten sich um ihn: Trivial weckte den Bauern Hermann Tomba, als eines Nachts dessen Scheune brannte. Trivial rettete Bauernkinder aus Jauchegruben. Trivial verscheuchte Einbrecher und verjagte Landstreicher. Trivial beschützte eine verletzte Ente vor den Dorfkatzen. Der Gastwirt Peter Wischberg erzählte besonders gern, daß der Hund eines Tages knurrend vor seinem Auto gelegen habe und ihn nicht fortfahren ließ, bis er schließlich die Motorhaube öffnete und zu seinem Erschrecken feststellen mußte, daß ein Marder die Bremsleitung angeknabbert hatte.
    »Wie alt mag der sein?« fragte der Arzt, denn er konnte sich nicht erinnern, ob Trivial schon bei seinem Einzug im Dorf gelebt hatte. Er ging zurück zu dem Bauern.
    »Zweiundsechzig«, sagte der Bauer.
    »Nein, der Hund.«
    »Der Wirt?«
    »Nein, Trivial.«
    Sein Patient zuckte mit den Achseln.
    Doktor Bernhard Andree nahm sein Stethoskop und begann die Brust abzuhorchen. Es war das Geräusch einer Raucherlunge, aber der Arzt sparte sich die Frage nach Zigaretten oder Zigarren. Er wußte, sein Patient war Nichtraucher, und die Ursache für das angegriffene Organ war eher der Staub in den Ställen, vor allem der Futterstaub in den Schweineställen.
    »Ich habe Ihnen sicher schon empfohlen, eine Schutzmaske im Stall zu tragen?«
    Der Bauer stieß die Luft aus. »Wir sind anständige Leute.«
    »Sicher, sicher.«
    »Mein Vater ist zweiundneunzig geworden und hat auch den ganzen Tag im Schweinestall gestanden.«
    Der Internist schüttelte den Kopf. Diese Antwort kannte er. Doch die Schweinemast hatte sich seit der Zeit der Väter und seit dem enormen Bedarf der Wurstfabrik Wilhelm Webers gewaltig verändert.
    »Wo genau tritt der Schmerz auf?«
    »Hinten. Da so oben.« Der Bauer zeigte mit der Hand über seine Schulter.
    Doktor Bernhard Andree ließ seinen Patienten sich drehen. Erstaunt zog er die Brauen hoch. Weiße Flecken überzogen den Rücken des Landwirts. Pigmentstörungen, die bei früheren Untersuchungen nicht so deutlich zu sehen gewesen waren. Der Arzt betrachtete die gefleckten Schultern ein wenig zu lange und zu reglos, so daß der Bauer mißtrauisch fragte, was denn los sei.
    »Ihre Haut. Haben Sie in der Sonne gelegen?«
    Der Bauer lachte. »Keine Zeit für so etwas.«
    Der Arzt strich über die weißen Flecken, einige waren noch undeutlich, andere grenzten sich scharf ab, genau wie bei den
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