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Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Titel: Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman
Autoren: Gunter Gerlach
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A. Während dieser Stunden ihrer Abwesenheit hielt auch ich mein Grafikbüro knapp über dem Wasserpegel.
    Scottys vollständiger Vorname war Scotland. Für mich klang er nach einem Stummfilmschauspieler. Den Namen hatte ihr amerikanischer Vater ihr aus Begeisterung über Schottland gegeben.
    Unser Zusammentreffen war Zufall, ein Zusammenstoß an der Bar. Ich hatte einen Auftraggeber aus Hamburg in sein Hotel zurückgebracht. Eine kleinere Ölgesellschaft wollte für ihre gesamten Drucksachen eine eigene Schrift entworfen habe. Darauf bin ich spezialisiert. Wir tranken ein letztes Bier. Er verabschiedete sich, wollte ins Bett. Ich blieb sitzen, sah ihm nach, bis er im Fahrstuhl verschwand. Ich wollte wissen, wer außer mir noch an der Bar saß, und drehte mich um. Sie saß direkt neben mir und drehte sich im gleichen Moment auf ihrem Hocker. Wir stießen zusammen. Ihr Glas kippte, der Drink schwappte über meine Hose. Der helle Stoff wehrte sich nicht, sondern saugte alles gierig auf. Es war etwas mit Milch. Eventuell ein White Russian.
    Ich sprang auf, um den Rest Flüssigkeit abzuschütteln. Und da geschah etwas für mich ganz und gar Ungewöhnliches. Ihr Blick erstickte mich fast. Die Topografie des Erschreckens und Entsetzens auf ihrem Gesicht machte mich vollkommen wehrlos. Eine schockierende Reaktion für einen Menschen wie mich. Schließlich halte ich es für eine meiner Qualitäten, keine Gefühle zuzulassen.
    Sie ging in die Knie, bemühte sich, mich zu säubern, zu trocknen. Zuerst mit einer Papierserviette, dann mit einem Geschirrtuch, das ihr der Barmann wie eine Fahne reichte.
    Ich hielt ihre Arme fest, spürte die Knochen unter ihrer Haut. Sie kam hoch, wollte sich befreien, doch ich ließ sie nicht los. Sie roch nach Thymian. »Au«, sagte sie und lächelte dabei.
    Erst jetzt gab ich sie frei. Sie rieb sich die Handgelenke, dann küsste sie mich auf die Wange.
    »Es tut mir leid«, sagte sie und zog sich wieder auf den Barhocker hinauf.
    Ich glättete den Stoff meiner Hose. Der Fleck, eine dunkle Insel in einem grauen Meer, vergrößerte sich, wurde zu einem unbeholfenen Q. Die Nässe drang auf meine Haut.
    Der Barmann kam mit einem Fleckenspray. Ich winkte ab. »Wie wär's mit einem Föhn?«, fragte ich.
    Scotty rutschte wieder vom Hocker herab. Sie trat einen Schritt zurück, um mich zu betrachten. Sie schüttelte den Kopf, sagte, so könne ich nicht weiter an einer öffentlichen Bar sitzen bleiben, ich solle nach Hause gehen, mich umkleiden. Und weil sie Schuld sei und Strafe verdient habe, werde sie mich begleiten, sich als Schutz vor mich stellen, wenn jemand entgegenkäme.
    Es war nur ein kurzer Fußweg bis zu mir. Ich wohne ziemlich zentral in Frankfurt, in einem Geschäftshaus.
    Sie staunte über meine Wohnung, die im vorderen Teil Büro ist. Der Besitzer des Hauses duldet stillschweigend, dass ich hier auch wohne. Viele Mieter tun das. Manche haben nur noch pro forma ein Firmenschild. Anders ist das Geschäftshaus nicht mehr zu vermieten. Es gibt keinen Vorraum, man betritt mein Büro direkt, mit seinen Schreibtischen und Computern, die wie Eisberge auf einem meerblauen Teppich schwimmen. Am Himmel der Arktis, den grau gestrichenen Wänden, fliegen in Glasrahmen einzelne schwarze Buchstabenvögel oder ganze Schwärme, Alphabete unterschiedlicher Zeit und Herkunft. Erleuchtet wird das alles durch Nebelsonnenleuchtstoffröhren. Mit der Kälte und Sachlichkeit will ich meine Kunden beeindrucken. Sie sollen denken, wer seine Emotionen so kontrollieren kann, der kann Schriften entwerfen, die beim Leser gezielt Gefühle hervorrufen.
    Dann der Kontrast. Die Räume dahinter. Da wohne ich. Sie sind seit einer Affäre mit einer Bauchtänzerin in Beduinenzelte verwandelt worden. Schon am ersten Tag unserer Beziehung schleppte sie Stoffballen herein, verhängte alles mit starken einfarbigen und gemusterten Stoffen. Keine Wand war mehr sichtbar, selbst Stühle, Tische, Schränke verschwanden unter dem Stoff, bis die ursprüngliche Form des weltberühmten und oft teuer bezahlten Designs nicht mehr erkennbar war. Nach dem dritten Tag verließ sie mich. Ihre Dekoration war fertig. Ich habe fast alles so gelassen. Wahrscheinlich weil ich im zufälligen Faltenwurf der Stoffbahnen immer wieder die Formen von Buchstaben entdeckte. In meiner Freizeit katalogisiere ich solche Buchstabenstrukturen in meiner Umgebung, auf der Straße oder in der Natur. Ich zeichne sie ab, fotografiere sie, weise sie Gruppen zu. Die
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