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Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman

Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman

Titel: Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman
Autoren: Dittrich Verlag GmbH
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ich zuerst meinen Augen nicht, da ich dich überall, aber nicht in Hamburg vermutete. Hoffentlich machst du mit dem Geld etwas Sinnvolles. Denn eins ist klar: Du bist nicht der Gangster-Typ. Und das Leben eines Kleinganoven ist, jetzt mal ehrlich, alles andere als erstrebenswert.«
    Bülent und Doris schwebten durch den Raum, auf einander einredend, vermutlich mit einem enorm wichtigen Thema befasst, setzten sich schwungvoll auf ihre Stühle, sagten »oh, Mann« und »Junge, Junge«. Bülent teilte uns mit, dass er neuerdings verrückt nach Dave Edmunds sei und den Song
I Knew The Bride (When She Used To Rock’n’Roll)
irgendwann in sein Repertoire aufnehmen wolle, und dann winkten die beiden hektisch den Kellner herbei und bestellten Cola, Fanta und Orangensaft. Verwundert rätselte ich, wieso Bülent sich das weiße Zeug in die Nase gezogen hatte, ausgerechnet er, dem schon sein Haschischkonsum Allah gegenüber peinlich war, den ich nach seinem Besäufnis in Bad Harzburg zum ersten Mal beten sah, mit allem Drum und Dran, also der ganzen vorschriftsmäßigen Gymnastik, mehr oder weniger exakt nach Mekka ausgerichtet. Vielleicht hatte er ja, wie so viele Gläubige, welcher Religionszugehörigkeit auch immer, ein Schlupfloch gefunden – zum Beispiel die Tatsache, dass nirgendwo im Koran das Wort Kokain auftaucht. Doris schob unauffällig das Plastiktütchen mit dem Koks zu Manuel, doch der winkte ab. »Könnt ihr behalten.« Er reichte mir eine Visitenkarte. »Falls ihr was braucht. An sich gebe ich mich nicht mit Kleinkram ab, aber wir sind ja jetzt Freunde.«
    Freunde? Das fand ich nun doch etwas übertrieben.
    Am nächsten Tag begleitete ich Bülent, als er seine Familie besuchte. Es war nicht so, dass er etwa Schiss gehabt hätte, ganz und gar nicht. Er hatte sich in den paar Wochen stark verändert. Seinem Vater, das stand fest, würde er nie mehr gehorchen, obwohl er ihn und überhaupt die ganze Familie liebte. Aber nichts würde mehr so sein wie zuvor. Sein Lebensweg führte unwiderruflich in eine andere Richtung – weg von den Obst- und Gemüsehändlern, weg von den Kebap-Restaurants und Döner-Läden, hinaus aus den Teehäusern, in denen alte, schnauzbärtige Männer die Kugeln ihrer Tesbih – der Gebetskette – durch die Finger rutschen lassen, rauchen, Tee trinken, Karten oder Tavla spielen und krank vor Wehmut sind. Weg von diesen Teehäusern und türkischen Kulturvereinen, in denen die Luft erfüllt ist von der Traurigkeit der alten Männer und der Unruhe perspektivloser, unsicherer junger Burschen, und natürlich auch raus aus der Enge überbelegter Wohnungen, in denen noch immer die einschnürenden Regeln Ostanatoliens den Tag und das Leben bestimmen. So sehr er an dieser begrenzten türkischen Welt auch hing, weil sie seine Heimat gewesen war und ihm Schutz geboten hatte, war ihm klar, dass sie nicht seine Zukunft sein konnte. Das hatte er längst geahnt, und in den letzten Wochen war die Vorstellung nach und nach konkret und zur Gewissheit geworden: Er musste die ostanatolischen Burgen im fremden Deutschland verlassen, um nicht mehr der Fremde zu sein.
    Bülents Mutter öffnete die Tür – und gleich darauf verwandelte sich die Familie Gürsel in eine wild umherflatternde Schar hochgradig aufgeregter Hühner. Ein Wirbel aus diversen Gefühlsregungen, die nicht nur positiver Art waren. Aber Jubel, Freude, Erleichterung, Stolz und Bewunderung dominierten ganz klar, und die dunklen Emotionen – Zorn und Angst, Enttäuschung und Gekränktsein –, mochten sie in letzter Zeit auch noch so sehr gebrodelt haben, kamen nur schwach zur Geltung, wurden zwar ab und zu gezeigt, etwa durch einen Rippenstoß, einen Klaps auf den Hinterkopf oder – offenbar bei den Gürsels beliebt – durch das Kneifen der Wangen, der Nase, des Oberarms, aber abgeschwächt, fast liebevoll, von Tränen und Küssen begleitet. Und Bülent ließ es sich beglückt gefallen. So sehr er sich auch verändert hatte, fühlte er sich dennoch keineswegs erhaben. Es kam ihm gar nicht in den Sinn, sich den Eltern und Geschwistern überlegen zu fühlen.
    Was sie von mir halten sollten, war den Leuten nicht ganz klar. Ein Typ, dessen anfangs mäßig lange Haare inzwischen gewuchert waren wie Unkraut, der um einiges älter als Bülent war, der in der Zeit, als er hier im Haus gewohnt hatte, keiner Arbeit nachgegangen war – das Idealbild des Verführers? Andererseits war der verlorene Sohn wohlbehalten heimgekehrt, wenn auch nur, zum
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