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Das Jahr der stillen Sonne

Das Jahr der stillen Sonne

Titel: Das Jahr der stillen Sonne
Autoren: Wilson Tucker
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gewesen.

17
     
    Der Besprechungsraum hatte sich nur wenig verändert, seitdem Chaney ihn vor Wochen oder Jahren oder Jahrhunderten zum erstenmal betreten hatte.
    Chaney erinnerte sich an den Militärpolizisten, der ihn vom Tor aus hierher eskortiert und ihm die Tür geöffnet hatte; er erinnerte sich an seinen ersten Blick in diesen Raum – an den lauwarmen Empfang, an sein verspätetes Kommen. Kathryn van Hise hatte ihn kritisch betrachtet, als frage sie sich, ob er der bevorstehenden Aufgabe gewachsen sein werde; Major Moresby und Arthur Saltus hatten gelangweilt Karten gespielt und ungeduldig sein Eintreffen erwartet; der große Stahltisch stand in der Mitte des Besprechungsraums unter hellen Leuchtstoffröhren – alles hatte nur noch auf ihn gewartet.
    Chaney hatte seinen Namen genannt und eine Entschuldigung begonnen, als das schmerzhafte Geräusch zum erstenmal ertönte. Er hatte gesehen, wie die anderen auf die Wanduhr starrten: einundsechzig Sekunden. Das alles lag erst eine oder zwei Wochen zurück – bevor die gewichtigen braunen Umschläge geöffnet wurden und hundert Phantasien Nahrung gaben. Die lange Reise, die an einem Strand in Florida begonnen hatte, führte ihn jetzt in diesen Raum zurück, aber diesmal bildete eine Laterne die einzige Lichtquelle.
    Katrina wartete dort.
    Die alte Frau saß auf ihrem gewohnten Platz an einer Schmalseite des riesigen Tisches. Sie saß mit gefalteten Händen ruhig unter den längst erloschenen Leuchtstoffröhren. Chaney stellte die Laterne auf den Tisch zwischen sie, und der schwache Lichtschein fiel auf ihr Gesicht.
    Katrina.
    Ihre Augen waren hell und lebhaft, so wachsam intelligent, wie er sie in Erinnerung hatte, aber die Zeit hatte dieses Gesicht nicht freundlich behandelt. Chaney erkannte die Spuren, die Schmerz, Kummer und Sorgen hinterlassen hatten; er sah das zerfurchte Gesicht einer tapferen Frau, die viel erduldet und viel durchlitten hatte, ohne dabei den Mut zu verlieren. Blasse Haut spannte sich über Kinn und Backenknochen. Das prächtige Haar war völlig ergraut. Schwere Jahre, unglückliche Jahre, magere Jahre.
    Trotzdem schlug Chaneys Herz bei ihrem Anblick rascher: sie war im Alter so schön wie in der Jugend. Er fand es tröstlich, daß ihre Schönheit alles überdauert hatte.
    Chaney setzte sich auf seinen gewohnten Platz, ohne sie dabei aus den Augen zu lassen. Die alte Frau bewegte sich nicht; sie beobachtete ihn schweigend und wartete auf das erste Wort.
    Der staubige Besprechungsraum war so kalt wie der Keller des Laborgebäudes und wie die Abendluft im Freien. Katrina trug eine viel zu große Parka, und wenn er sich gebückt hätte, hätte er schwere Stiefel an ihren Füßen gesehen. Sie saß nach vorn gebeugt auf ihrem Stuhl, war etwas zusammengesunken und wirkte müde.
    Katrina wartete auf ihn.
    Chaney suchte verzweifelt nach dem richtigen Wort, das nicht tölpelhaft, melodramatisch oder unecht klingen durfte. Das würde sie ihm nicht verzeihen. Er führte den gleichen Kampf wie vorhin an der Tür, als er sich von Arthur und Kathryn Saltus verabschiedet hatte, und fürchtete erneut, ihn zu verlieren. Er hatte Katrina erst vor wenigen Stunden in diesem Raum zurückgelassen, bevor er die dritte – und letzte – Reise in die Zukunft unternahm. Sie hatte auf dem gleichen Platz gesessen, als er sich von ihr verabschiedete.
    »Ich liebe dich noch immer, Katrina«, sagte Chaney.
    Er beobachtete ihre Augen und glaubte, ein fröhliches Lachen in ihnen zu sehen.
    »Danke, Brian.«
    Auch ihre Stimme war gealtert; sie klang leicht heiser und müde.
    »Ich habe Walderdbeeren an den Grundmauern eines niedergebrannten Gebäudes gefunden, Katrina. Wann werden Erdbeeren in Illinois reif?«
    Das Lachen in ihren Augen war unverkennbar. »Im Mai oder Juni. Die Sommer sind recht kühl gewesen – aber im Mai oder Juni.«
    »Weißt du, welches Jahr jetzt ist?« fragte Chaney gespannt.
    Sie schüttelte leicht den Kopf. »Wir haben schon seit vielen Jahren keinen Strom mehr. Tut mir leid, Brian. Ich habe die Übersicht verloren.«
    »Das spielt keine Rolle mehr, nehme ich an«, murmelte Chaney. »Jetzt nicht mehr, seitdem wir soviel wissen. Ich stimme mit Pindar überein.«
    Katrina warf ihm einen fragenden Blick zu.
    »Pindar hat vor etwa zweieinhalbtausend Jahren gelebt und war weiser als die meisten Menschen, die nach ihm gekommen sind«, erklärte er ihr. »Er hat die Menschen vor einem allzu weiten Blick in die Zukunft gewarnt – weil ihnen nicht
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