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Das Jahr der stillen Sonne

Das Jahr der stillen Sonne

Titel: Das Jahr der stillen Sonne
Autoren: Wilson Tucker
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würden; Sie waren der letzte der drei Reisenden.«
    »Ist nach uns keiner mehr aufgebrochen?« fragte Chaney erstaunt.
    »Keiner mehr.«
    Chaney berührte nochmals den Grabhügel, und ihre Blicke folgten seiner Hand. Er hatte noch eine Frage zu stellen, bevor er aufstehen konnte.
    »Wer liegt hier?«
    »Mein Vater«, antwortete Arthur Saltus.
    Wie? Wann? Warum? wollte Chaney ausrufen, aber dann schwieg er doch verlegen, schmerzlich berührt und niedergeschlagen; er verfluchte den Tag, an dem er Katrinas Angebot nicht energischer zurückgewiesen hatte. Er stand langsam auf, hütete sich vor plötzlichen Bewegungen, die falsch gedeutet werden konnten, und war seinem Schicksal dafür dankbar, daß er das Grab nicht fotografiert hatte. Jetzt brauchte er Katrina und Seabrooke nicht zu erzählen, was er hier gesehen hatte. Er würde das Grab überhaupt nicht erwähnen.
    Chaney sah sich um und stellte fest, daß die beiden allein gekommen zu sein schienen.
    »Seid ihr hier allein?« fragte er unbeabsichtigt laut.
    Die Frau zuckte zusammen und wäre am liebsten geflüchtet, aber ihr Bruder blieb stehen.
    »Nein, Sir.«
    »Wo ist Katrina?« wollte Chaney nach einer kurzen Pause wissen.
    »Sie wartet dort drinnen, Mr. Chaney.« Arthur Saltus zeigte auf das Laborgebäude.
    »Weiß sie, daß ich hier bin?«
    »Ja, Sir.«
    »Hat sie gewußt, daß ich nach ihr fragen würde?«
    »Ja, Sir. Sie hat damit gerechnet.«
    »Ich werde jetzt einen Befehl mißachten«, sagte Chaney.
    »Auch das hat sie erwartet.«
    »Aber sie hat keine Einwände erhoben?«
    »Sie hat uns angewiesen, Ihnen etwas zu bestellen, Sir. Wir sollen Ihnen sagen, daß sie Ihnen bereits früher erklärt hat, wo sie warten würde.«
    Chaney nickte langsam. »Ja, das hat sie getan«, gab er verwundert zu. »Sogar zweimal.« Als er die Wasserrinne entlangging, wichen die beiden scheu vor ihm zurück. »Habt ihr das alles gebaut?« erkundigte er sich.
    »Mein Vater und ich haben die Zisterne gegraben, Mr. Chaney. Wir hatten Ihr Buch. Die Beschreibungen waren sehr klar.«
    Am Rand des Parkplatzes trat Arthur Saltus zur Seite, um Chaney an sich’ vorbeigehen zu lassen. Die Frau hatte sich etwas weiter von ihnen entfernt und achtete darauf, daß dieser Abstand nicht kleiner wurde. Sie starrte Chaney noch immer an, und er war davon überzeugt, daß sie seit zu vielen Jahren keinen anderen Mann mehr gesehen hatte. Er wußte außerdem, daß sie noch nie einen Mann wie ihn innerhalb der Umzäunung zu Gesicht bekommen hatte: Das war der Grund ihrer Angst.
    Er ließ das Gewehr auf dem Karren liegen.
    Chaney steckte die beiden Schlüssel in das Doppelschloß und öffnete die Tür. Dann blieb er verlegen auf der Schwelle stehen, sah zu dem Paar hinüber und überlegte sich, wie er sich von ihnen verabschieden sollte. Nur ein Narr würde versuchen, etwas Witziges, Belangloses oder Unverbindliches zu sagen; nur ein verdammter Narr würde diese beiden Menschen wortlos verlassen.
    »Ich danke euch für euer Vertrauen«, sagte Chaney.
    Saltus nickte. »Uns ist gesagt worden, wir könnten Ihnen vertrauen.«
    Chaney betrachtete Arthur Saltus und sah beinahe wieder den blonden Schopf und die leicht zusammengekniffenen Augen eines Mannes, der es gewöhnt war, übers sonnenhelle Meer zu blicken. Er betrachtete Kathryn Saltus, aber er konnte sie sich nicht in einem Dreieckshöschen und einer durchsichtigen Bluse vorstellen. An ihr hätten diese Kleidungsstücke aus einer längst versunkenen Welt geradezu obszön gewirkt. Er starrte ihr Gesicht einen Augenblick zu lange an und war bereits dabei, sich Hals über Kopf in sie zu verlieben, als die Realität sich ihm aufdrängte.
    Die harte Wirklichkeit: Sie lebte hier, aber er gehörte in ein anderes Zeitalter. Es war unsinnig, sich in eine Frau zu verlieben, die noch nicht einmal geboren war. Eine schmerzliche Realität.
    Als er die Tür schloß, hatte er ein schlechtes Gewissen, weil er den beiden nicht mehr zu sagen hatte. Chaney wandte sich ab und ging die Treppe hinunter, um alles zu verlassen, was er heute gesehen hatte: die ruhige Sonne, die kalte Welt des 21. Jahrhunderts, die unbekannten Überlebenden jenseits des Zauns, die bei seinem Anblick entsetzt geflohen waren, und die fast vertrauten Überlebenden innerhalb der Umzäunung, die ihn so sehr an seinen eigenen Verlust erinnerten. Er hatte ein schlechtes Gewissen, aber er kehrte nicht um.
    Dieser unbekannte Tag näherte sich seinem Ende.
    Er war der längste Tag in Chaneys Leben
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