Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Jahr der stillen Sonne

Das Jahr der stillen Sonne

Titel: Das Jahr der stillen Sonne
Autoren: Wilson Tucker
Vom Netzwerk:
einen Mann, eine Frau und ein drei- oder vierjähriges Kind in etwa hundert Meter Entfernung vom Zaun. Der Mann trug nur einen kräftigen Stock, der ihm notfalls als Keule dienen konnte, während die Frau ein Bündel auf dem Rücken hatte. Der Kleine folgte ihnen in einigem Abstand und spielte irgendein selbsterfundenes Spiel.
    Chaney war so froh, diese drei zu sehen, daß er nicht einmal überlegte, ob ihm vielleicht Gefahr von ihnen drohte, sondern sie laut anrief. Das Gewehr behinderte ihn nur; er ließ es fallen, um mit beiden Händen winken zu können. Dann kletterte er sogar den Zaun hinauf, um sich zu zeigen und ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Er rief noch mal und winkte sie heran.
    Das Ergebnis verblüffte ihn völlig.
    Die beiden Erwachsenen sahen sich überrascht um, suchten zuerst in der falschen Richtung und entdeckten Chaney schließlich am Zaun in der Nähe der drei Totenschädel. Sie standen kurze Zeit wie gelähmt vor Angst. Dann schrie die Frau laut auf und ließ ihr Bündel fallen; sie lief, um ihr Kind zu beschützen. Der Mann rannte ihr nach, überholte sie und nahm das Kind in die Arme. Er verlor seinen Stock und bückte sich nicht einmal danach; er sah sich nur kurz nach Chaney um, der in den Maschen des Drahtzauns hing, und flüchtete dann, so schnell er konnte. Die Frau stolperte, wäre beinahe gestürzt und bemühte sich verzweifelt, mit dem Mann Schritt zu halten. Der Vater nahm den Kleinen auf den anderen Arm, streckte eine Hand nach der Frau aus und zog sie mit sich. Sie flohen vor Chaney, so schnell sie nur konnten. Der Kleine begann erschrocken zu weinen.
    »Kommt zurück!«
    Chaney klammerte sich am Zaun fest und sah ihnen nach, bis sie hinter dem Eisenbahndamm verschwanden. Das Weinen verstummte. Chaneys Finger schmerzten, aber er ließ nicht los.
    »Bitte kommt zurück!«
    Die Nordwestecke der Welt blieb leer. Er kletterte betrübt zu Boden. Seine Finger waren blutig.
    Chaney hob sein Gewehr auf, wandte sich ab und bahnte sich einen Weg durch das hüfthohe Gras auf die Gebäude zu, die früher das Herz der Station gewesen waren. Er hatte nicht den Mut, sich noch einmal umzusehen. In seinem ganzen Leben war noch niemand vor ihm davongelaufen – nicht einmal die Beduinenkinder, die ihn in der Wüste bei Ausgrabungen beobachtet hatten. Diese Kinder waren scheu und mißtrauisch gewesen, aber sie waren nicht vor ihm geflohen.
    Er marschierte weiter, ohne noch einen Blick auf die Autowracks, das Erholungsgelände mit dem Swimming-pool, die Fundamente, die blauen Blumen und die Walderdbeeren zu werfen. Er weigerte sich, das alles anzusehen, weil er die Überreste der früheren und die Anfänge der neuen Welt nicht wahrhaben wollte. Er stapfte mit gesenktem Kopf durchs Gras.
    Die Forschungsstation war eine isolierte Welt, eine eingezäunte und furchterregende Welt, die wie eine Zwingburg vor den Überlebenden des Bürgerkriegs aufragte. Es gab tatsächlich Überlebende. Sie waren dort draußen und hatten vor ihm die Flucht ergriffen – weil er in der Station gewesen war. Ihre Ängste konzentrierten sich auf die Station: Hier war der Teufel, den sie kannten. Er war der Teufel, den sie gesehen hatten und vor dem sie geflohen waren.
    Aber in der Station lebte jemand – kein Besucher, kein Außenstehender, der nur im Winter kam, um die Lagerbestände zu plündern, sondern jemand, der dieses Gebiet für sich beanspruchte. Ein Teufel, der den Zaun repariert und die Totenschädel zur Abschreckung aufgehängt hatte, aber auch ein Christ, der ein Grab gegraben und ein Kreuz errichtet hatte.
    Chaney blieb mitten auf dem Parkplatz stehen.
    Vor ihm: die unüberwindbaren Mauern des Laborgebäudes, das wie ein heidnischer Tempel aus dem Gras aufragte. Vor ihm: eine nabatäische Zisterne und ein Grabhügel. Von ihm: ein zweirädriger Karren, den jemand mit primitivsten Mitteln zusammengebaut hatte.
    Irgendwo hinter ihm: ein Augenpaar, das ihn beobachtete.

16
     
    Brian Chaney holte die beiden Schlüssel aus der Tasche und schloß die Eingangstür auf. Diesmal ertönte kein Klingelzeichen, als er die Tür öffnete. Auf dem obersten Treppenabsatz standen die zwei Laternen. Kalte Moderluft strömte aus der offenen Tür und verlor sich im Freien. Die Sonne stand schon hoch am Himmel, aber draußen blieb es trotzdem kühl. Chaney war froh darüber, daß er die Parka angezogen hatte.
    Blauer Himmel, strahlender Sonnenschein, für die Jahreszeit zu kühl: Das konnte er Gilbert Seabrooke berichten.
    Er
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher