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Das ist nicht wahr, oder?

Das ist nicht wahr, oder?

Titel: Das ist nicht wahr, oder?
Autoren: Jenny Lawson
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nicht der Brüller, gehört wahrscheinlich zu den Menschen, die in einem Ort
mit
Tankstelle aufgewachsen sind, und das ermuntert die Schüler immerhin nicht, mit dem Traktor zur Schule zu fahren.
    Wall in Texas ist ein eher sehr kleiner Ort und es gibt dort … hm … Dreck und Erde? Davon gibt es wirklich viel. Und Baumwolle. Und Gin, aber nicht den guten. Wenn die Menschen in Wall von Gin sprechen, meinen sie die Cotton Gin, die Entkörnungsmaschine, den einzigen richtigen Betrieb vor Ort, eine Art Fabrik, die Baumwolle in … in etwas anderes umwandelt. Ich habe wirklich keine Ahnung, in was. Vielleicht
andere
Baumwolle? Es hat mich nie wirklich interessiert, weil ich davon ausging, dass ich dieses Nest binnen weniger Tage verlassen würde. So habe ich dann ungefähr die nächsten zwanzig Jahre verbracht.
    Die Dinger auf dem Rückumschlag sind Baumwollkapseln. Wirklich, Leute.
    Unser Jahrbuchthema war einmal einfach »Wo liegt Wall?«, weil man das jedes Mal gefragt wird, wenn man sagt, dass man dort wohnt. Die Frage hatte ursprünglich –
und noch passender
– »Wo zur Hölle liegt Wall?« gelautet, aber der Jahrbuchlehrer hatte das »zur Hölle« gleich wieder gestrichen mit der Begründung, altersgemäße Sprache wäre wichtig, auch auf Kosten journalistischer Genauigkeit.
    Wenn ich gefragt wurde, wo Wall liegt, antwortete ich immer mit einer vagen Handbewegung: »So in dieser Richtung.« Und ich lernte schnell, wenn ich nicht sofort das Thema wechselte und den anderen aus seinen Gedanken riss (meinpersönlicher Standardsatz: »Sieh mal! Ein Seeungeheuer!«), folgte darauf unweigerlich (und oft ungläubig) die Frage: »Warum Wall?« Man wusste dann nie genau, ob damit gemeint war, warum zur Hölle man dort wohnte oder weshalb man einen Ort »Wall« nannte, was aber eigentlich egal war, weil es auf keine der Fragen eine gültige Antwort zu geben schien.
    Leider war das mit dem Seeungeheuer weder sehr originell noch besonders glaubhaft (zumal wir auf allen Seiten von Land umgeben waren), sodass ich dazu überging, mir zum Ausgleich für das bräunliche Allerlei von Wall interessante Geschichten auszudenken, die niemand überprüfen konnte. »Ach,
Wall?
«, sagte ich etwa mit einem, wie ich mir einbildete, herablassenden Lächeln. »Dort wurde die Hundepfeife erfunden.« Oder: »In Wall spielt FOOTLOOSE. Wir verehren hier alle Kevin Bacon.« Oder: »Dass Sie Wall nicht kennen, überrascht mich nicht. Es war Schauplatz eines der furchtbarsten kannibalistischen Gemetzel der amerikanischen Geschichte. Aber darüber reden wir nicht. Ich hätte gar nicht davon anfangen sollen. Wir wollen nie wieder davon sprechen.« Ich hatte gehofft, mir dadurch eine geheimnisvolle Aura zuzulegen und meine Zuhörer mit unserer grässlichen Geschichte zu beeindrucken, aber stattdessen machten sie sich nur Sorgen um meinen Geisteszustand. Als meine Mutter schließlich von meinen Geschichten hörte, nahm sie mich zur Seite und sagte, niemand kaufe sie mir ab und der Ort wäre höchstwahrscheinlich nach jemandem benannt, der mit Nachnamen zufällig Wall geheißen hätte. Ich meinte darauf, er hätte vielleicht nur so geheißen, weil er die Wand erfunden hätte, worauf sie ungeduldig seufzte und sagte, es wäre schwer vorstellbar, dass ein Mann die Wand erfindet, wo die meisten Männer doch nicht einmal auf der Toilette die Tür hinter sich zumachen könnten. Als sie merkte, wie enttäuscht ich darüber war, dass sich so gar nichts zugunsten unseres Dorfes anführen ließ, räumte sie halbherzig ein, der Name käme ja vielleicht von einer symbolischen Mauer, die uns vor etwas schützen sollte. Vor dem Fortschritt, vermutete ich. Meine Mutter hatte mehr an Baumwollkapselkäfer gedacht.
    Manchmal frage ich mich, wie es wohl gewesen wäre,
nicht
meine Kindheit gehabt zu haben. Ich habe keine solide Vergleichsgrundlage, aber wenn ich andere frage, stelle ich fest, dass in ihrer Kindheit im Allgemeinen weniger Blut fließt und dass es ihnen unangenehm ist, über ihre Kindheit zu sprechen. Aber über was bitteschön soll man denn sonst sprechen, wenn man in der Wein- und Spirituosenhandlung ansteht? Kindheitstraumata scheinen eine naheliegende Wahl, sie sind schließlich der Grund, warum die meisten von uns überhaupt dort anstehen. Ich habe allerdings festgestellt, dass viele offener über ihr eigenes Leben sprechen, wenn man selbst mit gutem Beispiel vorangeht, deshalb habe ich immer eine Elf-Punkte-Liste von Dingen parat, die in meinem
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