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Das Hohe Haus

Das Hohe Haus

Titel: Das Hohe Haus
Autoren: Roger Willemsen
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Filmstars oder Diktatoren, und gerade die Kanzlerin hat ja gute Erfahrungen gemacht mit diesem Persönlichen, wurde doch im Wahlkampf keiner ihrer Sätze so häufig eingespielt wie die Antwort auf die Frage, was einen Mann attraktiv mache: »schöne Augen«, hatte sie meinungsstark erwidert und sich damit an Heino und Sartre versündigt.
    Heute beantwortet sie die selbstgestellte Frage nach ihrem Vorsatz für das neue Jahr mit »frische Luft«, und die Ticker tragen es gleich in die Welt: »Merkel wünscht sich mehr frische Luft.« Das ist beides: menschlich und gratis. Außerdem überträgt sich der Wunsch gleich auf den Zuschauer. Er möchte das Fenster aufreißen in dieser stickigen Gruft mit den Fahnen, den dunklen Tönen, dem schweren Tischmöbel, der thronenden Frau in Goldmetallic, die auch heute wieder ihre eigene Ökonomie der Zumutbarkeiten organisiert. Schließlich haben die Menschen Probleme genug, will sie sagen, was soll ich ihnen da jetzt noch aufbürden? So fallen alle großen offenen Themen des Jahres raus – NSA , NSU , Lampedusa, die Wahl, Syrien, Afghanistan, die neue parlamentarische Situation –, dagegen behaupten sich Allgemeinplätze zu Wirtschaft und Militär und vor allem die immateriellen Werte: Vertrauen, Zusammenhalt, Gemeinsinn, Engagement.
    Da ist sie also wieder, die Hüterin des großen Sowohl-als-auch: Das Kleine und das Große, das Beglückende und das Erschütternde, das Weltpolitische und das Privatmenschliche, alles rafft sie unter den Mantel ihrer Fürsorge. Wie gut lässt sich da die Welle des Hochwassers mit der Welle der Hilfsbereitschaft synchronisieren! Wieder ist die Flut dabei schicksalhaft. In der Bundestagsdebatte zum Thema aber hatten Abgeordnete noch dargelegt, dass es Eingriffe in die Natur waren, die das Hochwasser fatal hatten werden lassen. Sie hatten frühere Warnungen zitiert, geklagt, dass man sich heute noch der vorbeugenden Renaturierung der Landschaft widersetze.
    Merkel sagt auch: »Wir wollen, dass alle Kinder und Jugendlichen die bestmögliche Bildung und damit die bestmögliche Chance auf ein gutes Leben erhalten können.« Im Bundestag aber war immer wieder vom elenden Zustand der Schulen, der mangelnden Ausstattung der Universitäten die Rede, auch davon, dass in den Ganztagsschulen für Schulessen gerade mal 1  Euro  50 angesetzt werde, womit kein Kind gesund ernährt werden könne. Der Forderung nach einer Pauschale von vier Euro hatten sich CDU / CSU hohnlachend widersetzt.
    Die Kanzlerin lobt auch wie schon der Bundespräsident in seiner Weihnachtsansprache das Ehrenamt. In der Bundestagsdebatte aber wurde dazu erklärt, diese Freiwilligkeit sei nicht zuletzt ein Wirtschaftsfaktor, da zahlreiche Staatsleistungen ohne sie nicht erbracht werden könnten. Die unbezahlte Arbeit zieht man schlicht mit ins Kalkül. Auch hier also die zwei Seiten eines Themas: eine für die Neujahrsansprache, eine für die Realität.
    Ähnlich das Selbstbild: »Was unser Land im Kern ausmacht«, resümiert die Kanzlerin, »ist Leistungsbereitschaft, Engagement, Zusammenhalt.« Wo kommt jetzt das wieder her, dass wir das Land des Zusammenhalts sind? Und halten gegen wen zusammen? Fluten? Islamisten? Einwanderer in unsere Sozialsysteme? Wir wollen kochen und »Tatort« gucken, wir sind gut in Selbstbehauptung, Melancholie und Nachbarschaftsstreitigkeiten und beantworten ein Hochwasser nicht durch die ökologisch und ökonomisch richtigen Maßnahmen, sondern durch »Zusammenhalt«. Was soll daran besonders, was »deutsch« sein?
    Nein, man tritt einen Schritt zurück und kann dies durchaus bizarr finden: Da sitzt diese goldene Dame im Fernsehen, kriegt fünf Minuten, um zum Volk zu reden, und sagt Dinge wie: »Oft jagt ein Ereignis das andere.« Oder: »Und natürlich ist fern der großen Schlagzeilen auch in unserem persönlichen Leben viel geschehen, Schönes wie Enttäuschendes.« Das ist zumindest von einer lähmenden Ambitionslosigkeit, weil es offenbar nichts zu sagen, nichts zu glauben, nichts zu wecken gibt.
    Merkels wichtigster Satz aus dem sommerlichen Kanzlerduell hatte gelautet: »Sie kennen mich.« Das bedeutet für die Neujahrsansprache: Erwarten Sie nichts. Der Blick aus ihrem Verwaltungsgebäude des Landes geht auf Finanzmärkte und auf Europa. Wo sie hier abermals beschworen werden, klingt es wie posthumer Wahlkampf, nicht beflügelt, nicht beflügelnd. Diese Rede ist eine für Alte und Anspruchslose. Kein Engagement löst sie aus, sie erstickt es
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