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Das Hohe Haus

Das Hohe Haus

Titel: Das Hohe Haus
Autoren: Roger Willemsen
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»natürlich«! Jetzt also stattdessen das Wunder von der mitwachsenden Herzklappenprothese.  
    Es ist ein ordinärer Impuls, sich von der Kanzlerin, ihrer Rhetorik, ihrer Erscheinung, ihrem Gefühlshaushalt, sich von der Volksvertretung insgesamt nicht vertreten zu fühlen. Es ist der billigst zu habende Dünkel, sich als das Individuum zu verstehen, das im Kollektiv nicht aufgeht. Was ich aber über meine Repräsentation im Parlament weiß, beziehe ich aus sekundären Quellen des Nachrichtenjournalismus. Ich unterstelle ihnen Absichten, eigene Interessen, unterstelle mich trotzdem ihrer Autorität. Welche Autorität aber besitzt das Entscheidungszentrum der Demokratie, wenn ich es mit eigenen Augen sehe?

Montag, 7 . Januar, 9  Uhr, Ortstermin
    Der Reichstag sieht immer noch aus wie ein Planungsrelikt auf der »Grünen Wiese«, ein Denkmal. Abseits vom Brandenburger Tor, unverbunden mit den großen Verkehrsadern ringsum, ist das Gebäude ein Solitär, umgeben vom »Cordon sanitaire« der Wachhäuschen, Pavillons, Käsekästchen der Absperrungsgitter.
    In weit mehr als der Hälfte der Zeit seit seiner Vollendung stand der Bau ungenutzt, verlegen herum, hätte mehrfach zerstört werden sollen, erhob sich dreißig Jahre lang marginalisiert im Schatten der Mauer. Selbst nach der Vereinigung dachte zunächst kaum jemand daran, ihn zum Parlamentssitz zu erheben. Doch mit der künstlerischen »Verhüllung« von 1995 änderte sich der Blick auf den Bau, den man pathetisch, kolossal, überheblich, anmaßend gefunden hatte. Bald richtete man Tage der offenen Tür selbst im Rohbau ein, und das Brandenburger Tor fiel auf Platz  2 der symbolischen Attraktionen Berlins zurück. Das Äußere des Reichstags ist immer noch schwer wie ein Eichenmöbel, überwölbt von der luftigen Kuppel, dem Publikumsliebling. Vor dem alten Haupteingang ist noch der Kaiser vorgefahren. Die heutigen Abgeordneten nehmen den Osteingang.
    Es hatte gerade geschneit, als ich ankam. Die meisten Besucher waren Touristen, asiatische vor allem, die Foto-Posen ausprobierten vom Hitlergruß bis zur Kommunistenfaust. Sie standen schelmisch vor der Repräsentationsarchitektur und ketzerten gegen die Monumentalität des Gebäudes.
    Der Palast ist Direktor, Schutzmann, König. Die realen Polizisten dagegen haben gelernt, eine schläfrige Bereitschaft auszustrahlen, von der nach Jahren nur noch die Schläfrigkeit bleibt. Sie ächzen, wenn sie aufstehen, belastet von ihrer persönlichen Materialermüdung. Wenn man die Sicherheit des Landes an dem polizeilichen Aufwand rund um das Parlament ablesen will, dann war das Land nie so gefährdet.
    Das Parlament steht den Bürgern nicht einfach offen. Sie kommen in Gruppen, Teil organisierter Busreisen, denen sich vor allem Senioren aus dem ganzen Land anschließen. Oder sie kommen zu Schulausflügen oder Klassenfahrten. Ein Mädchen erzählt mir, dass sie sich ehemals eine Fahrt nach Berlin nur leisten konnten, weil man für einen Parlamentsbesuch eine Kopfprämie erhielt. Heutzutage sitzen meist Senioren oder Halbwüchsige auf den Tribünen. Sie dürfen für eine Stunde bleiben. Danach werden sie wieder hinauskomplimentiert.
    Ich selbst muss einen komplizierteren bürokratischen Weg gehen, meine Daten hinterlegen, meine Absichten erklären, in jeder neuen Sitzungswoche einen neuen Ausweis beantragen, denn, so wurde mir geflüstert, man müsse sehr auf den Ruf des Hohen Hauses achten. Fehler könnten Entlassungen nach sich ziehen. So oft bekam ich das zu hören, dass ich mich des Gefühls nicht erwehren konnte, dieses öffentlichste aller Gebäude habe etwas zu verbergen – etwas, das Kameras nicht zeigen, Stenographen nicht verzeichnen? Es ist mein Parlament, dachte ich, es verhandelt meine Sache, wird von mir bezahlt, warum sollte ich es nicht besuchen dürfen, so oft und so lang ich möchte? Glaubt man vielleicht, dass Bürger, wenn sie das Parlament besser kennten, es weniger schätzten?
    Der Rest sind Sicherheitsvorkehrungen: Ich muss zwei Ausweise zeigen, wenn ich nur den Platz samt Fuhrpark am Ostflügel überqueren will. Es folgen eine Ausweiskontrolle am Nordeingang, dann die Schleuse für Gepäck und Person in jener Zone, in der sich Jenny Holzers Installation befindet: eine Säule, auf der in Leuchtschrift eine Auswahl großer Parlamentsreden in die hohe Decke läuft. Dann bin ich im Innern mit seinem prononcierten Gegensatz zwischen dem Sandsteinmantel über den alten Ziegelwänden des historischen
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