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Das Hohe Haus

Das Hohe Haus

Titel: Das Hohe Haus
Autoren: Roger Willemsen
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Jasager improvisierend. So weiß man immer gleich, wie die Erregungstemperatur im Saal ist. Willkommen, nie gesehener, altvertrauter Schauplatz unter der Kuppel!
    Die sechs Besuchertribünen schweben wie Segmente einer Theatergalerie über dem Plenum. Das Innere des Saals enthält kaum noch Verweise auf das Äußere. Die massige historische Hülle öffnet sich zu einem mehrschichtigen, durchlässigen Innenraum. Auf der gläsernen Ostwand triumphiert der Bundesadler, ehemals heftig umstritten bei den Abgeordneten. Tausende von Skizzen machte Architekt Norman Foster, studierte alles Repräsentationsgeflügel der deutschen Geschichte, reichte allein 180  Entwürfe bei der Baukommission ein. War der Vogel den Abgeordneten zu dünn, so Cullen, dann fanden sie, er erinnere an die »mageren Jahre«. Waren seine Flügelspitzen zu spitz und hoben sie sich, so fanden sie ihn zu bedrohlich. Nein, man ließ den Architekten nicht machen. Genommen wurde am Ende die sogenannte »Fette Henne« aus dem Bonner Bundestag, und Foster zeigte sich tief enttäuscht: »Ein moderner Adler«, meinte er, »wäre ein Zeichen für den Aufbruch gewesen, für Veränderung und Erneuerung.« So liegt der Unterschied zwischen dem tierischen Adler und dem Bundesadler vor allem in der Schnabelpartie, der geraden Mundlinie bei Letzterem.
    Über vier Monate arbeitete man an dem 6  Meter  80 hohen Aluminium-Vogel mit der Flügelspannweite von 8  Meter  50 , einem Gewicht von 2 , 5  Tonnen und einer Grundfläche von 57 , 8  Quadratmetern. In drei Teilen zog er schließlich in den Plenarsaal ein. Und doch hat Foster auch hier seine Spur hinterlassen. Die Rückseite des Adlers nämlich, sichtbar von den rückwärtigen Gängen außerhalb des Plenarsaals, zeigt ein anderes Gesicht. Hier grient der Adler. Ja, es ist schon behauptet worden, er schaue spöttisch wie zur Kommentierung dieser ganzen Debatte. So hat im Parlament eben auch der Bundesadler seine zwei Seiten.
    Die Besucher, die eben noch in großen Gruppen darauf warteten, hineingeführt zu werden, grimassieren jetzt, als träten sie ins Bild ein: Hier also! Sie drängen sich auf die graubezogenen Bänke, sitzen ein Weilchen, lassen den Saal auf sich wirken, legen die Köpfe in den Nacken, um die zu sehen, die sich in die Kuppel schrauben. Sie überfliegen das Plenum mit den vielen leeren Reihen in »Reichstagsblau«, wie Foster diese Farbe nannte. Ursprünglich hatte er auch einen Plenarsaal-Stuhl entworfen, der aber ebenfalls abgelehnt wurde. Die Abgeordneten beharrten auf ihren Bonner Stühlen, verlangten gleichzeitig, dichter zu sitzen. Das tun sie nun. Ja, in der Gestaltung der Innenarchitektur hat sich das demokratische Kollektiv immer wieder durchgesetzt.
    Ich hatte mich darauf eingestellt, eine Institution im Verblassen ihrer Bedeutung zu erleben, und fand was vor? Die Raumwahrnehmung wird bestimmt von den Emblemen, die im Lande alle auf diesen Saal verweisen: die Flagge, der Adler, die Nationalfarben. Die Hoheit der Repräsentationsarchitektur verrät, dass hier eine große Idee beheimatet ist. Es ist der Ort, an welchem dem Grundgesetz, der Verfassung, der Legislative, der Moral des Staatswesens gehuldigt wird, und dieser Saal strahlt aus. Er repräsentiert die Demokratie und in dieser das Land. Was aber verrät der Zustand des Parlaments über den des Landes?
    Die Demokratie hat etwas Chimärisches. Wo wäre sie fassbar, wo materialisiert sie sich? Und wenn sie es tut, warum so oft in Ritualen und Floskeln? Ich denke an die Unterwürfigkeit gegenüber dem Lokalpolitiker, die Anerkennung einer Hierarchie, die sich aus der Fiktion der Macht speist, an die Ohnmacht von Demonstrationen. Die Verfassung meint: Die Entscheidungsgewalt liegt bei der Regierung, das Parlament kontrolliert diese Regierung. Die Wahrheit ist: Regierungsparteien kontrollieren das Kabinett nicht, vielmehr begleiten sie sein Tun repräsentativ, meist rühmend und dankend. Die Opposition sieht ohnmächtig zu und wird angesichts der langen vergeblichen Arbeit unbeherrschter und böser.
    Die Besucher schwenken den Raum ab, ordnen die Bänke und Blöcke den Fraktionen zu, ehe sie sich den Personen zuwenden. Den meisten geht es offenbar wie mir: Sie fühlen einen Bann, stellen rasch die Zwiegespräche ein, überlassen sich dem Augenschein. Der Deutsche Bundestag soll zwar das bestbesuchte Parlament Europas sein und besitzt mit 1600 Kubikmetern umbauten Raums auch den größten Plenarsaal. Journalisten aber kommen nicht
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