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Das Hohe Haus

Das Hohe Haus

Titel: Das Hohe Haus
Autoren: Roger Willemsen
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Abstimmungsergebnis, dann einen winzigen Blumenstrauß entgegen und erhebt sich.
    Der Saal leert sich indessen rapide. Auch von den sechs Tribünen sind nun vier unbesetzt. Ich gehe vor die Tür und lutsche draußen, denn nur hier darf ich es, das Bundestagsbonbon. Das hatte mir noch gefehlt. Oval, hellrosa und parfümiert mit Kirscharoma ist es. Immerhin ist sein Einwickelpapierchen mit drei Bundesadlern bedruckt. Neben mir kommen die Besucher aus dem Parlament mit Gesichtern, als verließen sie ein Museum oder den Zoo. Ich sehe niemanden, der im Gespräch eine Debatte aufnähme oder fortsetzte.
    Was aber könnte ich denn selbst noch referieren? In der Vergegenwärtigung wird es konfus: Da fliegen mir die Appelle und Satzbausteine, die Silben und Füllsel um den Kopf, Zahlen, Ausschnitte von Statistiken, die wie Konfetti durch die Luft regnen. Ich kann dieses ganze Meinen, Bedeuten, Simulieren, Vordergrund-Beanspruchen nicht mehr verfolgen, bald nicht mehr ertragen. Es ist ein einziger Wirbel von Ausrufezeichen, Signalen, Zeichenkomplexen: »Soziale Gerechtigkeit«, »Solidarsystem«, »Mehrkosten«, »Lebensleistung«, »Rahmenbedingungen«, »Generationengerechtigkeit«, »Mütterrente«, »künftige Generationen«, »Erwerbsminderungsrente« und »verantwortungspolitisches Handeln« …
    Oft kann ich die Person in den Worten nicht erkennen und die Haltung nicht hinter der Sprache. Es tanzt durch die Luft, dass es einem den Atem nimmt. Man möchte raus auf die Plätze, auf die Bürgersteige, möchte etwas von dem finden, was Menschen umtreibt und ganz ohne parlamentarische Repräsentation ist, man möchte der Rede entkommen und etwas wirklich Gemeintes, Belastbares hören, etwas der Ironie des Geredes Entzogenes.
    Ja, und man möchte die Frage beantworten können: Was bedeutet eigentlich Gesinnung im Parlament? Oder ist dieses Hohe Haus vielleicht die Institution, in der Gesinnung erst gesucht wird? Wo könnte man sie entdecken, wo produziert sie politischen Mehrwert, und warum ist es so schwer geworden, Gesinnung überhaupt zu finden, es sei denn, man begegnet ihr wie einem Lockstoff, der dem beigemengt wird, was das »Man« in allem Geschehen ist?
    Die Parlamentsrede, so leidenschaftlich sie sich gibt, informiert eigentlich nur noch Plenum und Öffentlichkeit über eine Position, trägt aber nicht mehr zur Entwicklung von Positionen bei. Deshalb ist der Aufwand an Überzeugungsarbeit nur noch rhetorisch, die Rede für das Abstimmungsverhalten gleichgültig. Im Grunde braucht also niemand mehr gute Reden im Parlament zu halten. Deshalb wirkt sie so abgenutzt, die rhetorische Überzeugungsintensität.
    Zuletzt aber soll sich an diesem Tag noch einmal der große Horizont öffnen. Wolfgang Gehrcke ( DIE LINKE ), ein älterer Herr mit rotem Schlips zum dunklen Anzug, wird fordern, die Beteiligung am »Krieg gegen den Terror« sofort einzustellen, aus Afghanistan abzuziehen, den NATO -Bündnisfall zu beenden und dem Eindruck zu wehren, wir würden dem ähnlicher, was wir bekämpften. Ingo Gädechens ( CDU / CSU ) wird dagegen auftreten und als ehemaliger Berufssoldat alle, die gerade auf der Welt Dienst an der Waffe für die BRD leisten, zu Weihnachten grüßen. Abgesehen davon wird er die deutsche Teilnahme an einer Militäroperation, die auf die Solidarität mit den USA nach dem 11 . September 2001 zurückgeht, mit wirtschaftlichem Kalkül verknüpfen: »Im Rahmen dieser Operation geht es auch um freien Zugang zum Mittelmeer und um Solidarität. Für uns als führende Handelsnation, aber auch für unsere Partner in der Europäischen Union ist das Mittelmeer ein entscheidendes Transitmeer, auf dem wichtige Güter transportiert werden.«
    Omid Nouripour (B  90 / DIE GRÜNEN ) wird schließlich die neuen Gegebenheiten eines veränderten »Sicherheitszeitalters« lange nach dem »America-under-attack«-Bündnisfall darlegen, sich dann aber ebenfalls an der Linken abarbeiten, was von der Regierungskoalition mit Wohlwollen betrachtet wird: Die beiden Oppositionsparteien fallen übereinander her. Dabei geht es eigentlich um Krieg, noch eigentlicher aber um die Urheberrechtsfrage: Was ist links, was ist grün in dem hier debattierten Antrag? Kein Wunder, dass der Redner der SPD den Redner der Grünen anschließend lobt und findet: »Das ist der Geist, den wir auch im Januar brauchen, wenn wir hier im Parlament über die Fortsetzung der Mission im Mittelmeerraum diskutieren werden.«
    Es gibt also nur eine echte
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