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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz
Autoren: Tad Williams
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sittenstrenger waren, lag es wohl daran, dass dort draußen auf den windigen Bergen das Angebot an menschlicher Gesellschaft nicht allzu groß war. Aber ganz so keusch konnten sie ja wohl nicht sein — irgendwo mussten die Hirtenkinder ja herkommen, oder ...?
    »Und warum sollten gewöhnliche Leute nicht auf einem Markt oder einem Volksfest zusammenkommen?«, sagte sie laut. »Wozu haben uns die Götter die Feste gegeben, wenn nicht dazu, sie zu genießen?«
    Eneas schüttelte den Kopf »Das ist es ja gerade. Sie wollten nicht, dass ihre Feste mit solcher Zügellosigkeit einhergehen — das können sie nicht gewollt haben! Wenn Ihr länger in Tessis geblieben wärt, wenn Ihr die Großen Zosimia miterlebt hättet, dann wüsstet Ihr, wovon ich spreche. Leute, die nackt auf der Straße tanzen! Gemeines Volk, das sich über den Adel lustig macht! Und Trunksucht und Unzucht! Verzeiht bitte abermals, Prinzessin Briony, aber es ist bestürzend, die Zuchtlosigkeit zu sehen, die in großen Städten heutzutage als normal gilt. Und nicht nur an den Großen Zosimia, sondern auch an Gestrimadi, am Waisentag, ja selbst an Kerneia — nennt irgendein Fest, und es ist ein weiterer Tag, an dem das gemeine Volk der ehrlichen Arbeit den Rücken kehrt und an nichts anderes denkt als an Wein und Tanz!«
    So dankbar sie Eneas auch war, hielt sie ihn doch allmählich in manchem für etwas verknöchert. »Aber die Adligen feiern all diese Feste doch auch und sogar noch mehr. Warum sollten gemeine Leute nicht das gleiche Recht haben? Sie haben doch dieselben Götter.«
    Eneas quittierte ihren Scherz mit einem Stirnrunzeln. »Natürlich. Aber es ist die Pflicht des Adels, ihnen ein Vorbild zu sein. Die niedereren Stände sind wie Kinder — man kann ihnen nicht alles erlauben, was die Erwachsenen dürfen. Würdet Ihr einem Kind erlauben, die ganze Nacht aufzubleiben und unverdünnten Wein zu trinken? Würdet Ihr ein Kind ins Theater gehen lassen, damit es sieht, wie ein als Frau verkleideter Mann einen anderen Mann küsst?«
    Briony wusste nicht genau, wie sie selbst zu alldem stand. Sie hatte Argumente wie die des Prinzen oft gehört und ihnen meist auch zugestimmt — wenn das gemeine Volk in der Lage wäre, selbst über sich zu bestimmen, dann hätten die Götter ja wohl kaum Könige und Königinnen, Priester und Richter erschaffen, oder? Aber in diesem letzten Jahr hatte sie vieles anders sehen gelernt. Finn Teodorus zum Beispiel war einer der klügsten Menschen, denen sie je begegnet war, und er war der Sohn eines Maurers. Nevin Kennits Vater war Schuster gewesen, und doch war Kennit anerkanntermaßen ein großer Stückeschreiber, besser als Dutzende Schriftsteller von edlerer Geburt. Und selbst die Leute, die sie während ihrer Reise mit Makswells Mimen auf den Landstraßen getroffen hatten, waren ihr nicht so anders erschienen als die Hofadligen in Südmark oder Tessis, abgesehen von der Verfeinerung ihrer Kleidung und ihrer Manieren. Und ihr eigener Bruder Barrick hatte doch immer gesagt, dass die Adligen von Südmark nichts weiter seien als parfümierte Bauern — galt dann nicht auch das Gegenteil: dass die Bauern nur ungebadete Adlige waren?
    »Ihr seid schweigsam, Mylady«, sagte Eneas, und sein wohlgeschnittenes Gesicht hatte einen beunruhigten Ausdruck. »Ich habe eine zu derbe Sprache gesprochen.«
    »Nein«, sagte sie. »Nein, ganz und gar nicht, Prinz Eneas. Ich denke nur über das nach, was Ihr gesagt habt.«
    Als sie in den Südwestzipfel von Silverhalden kamen, musste Briony feststellen, dass sie ihr eigenes Land, das Königreich ihres Vaters und Großvaters, kaum wiedererkannte. Hier draußen merkte man wenig von der Belagerung Südmarks, ja überhaupt von der Anwesenheit einer fremden Armee — die Qar waren bei ihrem Einmarsch von jenseits der Schattengrenze viel weiter östlich durchgezogen —, doch selbst in diesem vergleichsweise unberührten Winkel war es, als ob Briony und die Syanesen statt in einem ziemlich milden Frühjahr mitten im eisigen Winter hier eingetroffen wären. Felder lagen brach, auf anderen keimte nur stellenweise frische Saat, als ob nicht genügend Leute für die Arbeit da gewesen wären. Andernorts waren ganze Dörfer verlassen, nur Ansammlungen leerer Katen — wie Vogelnester nach der Brutzeit.
    »Dass man nichts weiß, das ist es.« Der müde Gastwirt war gerade im Begriff, sein Gasthaus im Argastal zu schließen, und nur zu froh, seine restlichen Lebensmittelbestände an die wandernde
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