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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz
Autoren: Tad Williams
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noch?«
    »Aber Ihr ... wart doch ...« Plötzlich sah er, wie das Dunkel und die tief verschatteten Berge
sich verformten,
etwas noch Seltsameres wurden: Barrick hatte das Gefühl, statt über eine breite Grasbahn jetzt über eine unmöglich schmale Brücke zu galoppieren, wo zu beiden Seiten das Nichts gähnte.
    Die Lande der Toten. Das Tal der Ahnen.
Die Furcht wurde so übermächtig, dass er kaum noch atmen konnte.
Was ist mit meinem Leben passiert?
    »Schweig jetzt.« Saqris Stimme war Musik in einer eindringlichen Moll-Tonart. »Wir sind gleich da. Wir dürfen ihnen keine Angst machen.«
    »Sie
haben Angst?«
    »Nur vor dem Leben. Vor zu viel Sorge. Vor dem Ziehen und Zerren der Erinnerung.« Er fühlte eine tiefe Traurigkeit in ihren Worten. »Aber das alles und noch mehr muss ich meinem Bruder bringen.«
    Um ihn herum bewegten sich jetzt Formen im unsteten Dunkel, Formen, die irgendwie unabhängig vom Gras und den Bergen existierten. Er konnte sie nicht richtig sehen, fühlte sie nur, wie man es fühlt, wenn jemand hinter einem steht. Diese neuen Formen schienen fern, nahezu leer, kaum mehr als Wind und die Spur von etwas Seiendem.
    »Das sind die, die schon lange tot sind, oder vielleicht auch nur der Abdruck, den jene hinterließen, als sie an andere Orte weiterzogen.« Saqris Stimme schien weit weg, ihr Weiß jetzt kaum sichtbarer als die leeren Gestalten um Barrick herum. »Fürchte dich nicht vor ihnen — sie wollen dir nichts Böses.«
    Aber er fürchtete sich vor ihnen, wenn auch nicht weil sie ihn bedroht hätten, sondern weil sie weder ihn noch sonst irgendetwas wahrzunehmen schienen. Waren sie einfach nur zurückgelassene Schatten, wie Saqri gesagt hatte, oder waren sie so tief im Tod versunken, dass die Lebenden sie gar nicht mehr verstehen konnten? Die Vorstellung, auch einmal so etwas zu werden, schreckte ihn zutiefst.
    »Da.« Saqri war jetzt etwas näher bei ihm, ihre Schwanengestalt so fahl schimmernd wie Sumpflicht. »Ich sehe sie — sie sind auf der Lichtung. «
    Sie führte ihn zwischen dunkle Schemen, die aufragten wie Bäume. Auf ihnen lag ein unendlich schwacher silberner Schein, der von oben kam, obwohl dort keine Quelle erkennbar war — so als hätte der Mond etwas von seinem Licht zurückgelassen wie Tau, ehe er vom Himmel verschwunden war.
    Und da sah er sie — eine Schar verschwommener, schwach schimmernder Formen, die waberten, als betrachte man sie durch tiefes Wasser oder uraltes Glas. Es waren Hirsche, oder zumindest trug jedes dieser Wesen auf dem Kopf ein leuchtendes, verästeltes Etwas, das ein Geweih hätte sein können. Sie wurden unruhig, als Barrick sich ihnen näherte, rannten aber nicht davon.
    »Nicht näher heran«, sagte Saqri. »Sie wittern das Leben in dir. Sie erinnern sich vielleicht nicht daran, aber sie wissen, dass es hier etwas Fremdes ist.«
    Jetzt sah er in dem Wabern etwas Helleres — Augen. Die hirschförmigen Wesen beobachteten ihn. »Was tun wir?«
    »Wir? Du tust gar nichts ... noch nicht. Diese erste Aufgabe ist meine.« Und er fühlte, wie sie ihre Stimme ausstreckte, so wie sie vorhin ihre Schwingen entfaltet hatte, und mit ihren Worten das Rudel sanft umfing. »Hört, all ihr Herren der Winde und Gedanken. Ich suche den, der im Leben Ynnir war, mein Bruder. Ich bin Saqri, die letzte Tochter der Feuerblume.«
    Barrick hörte eine Stimme oder fühlte sie seufzen wie Wind in einem Gewirr von Ästen.
»Was willst du? Du gehörst nicht hierher. Blühen die schwarzen Lenzrosen noch immer im Garten der Blume der Morgenröte, oder ist die Niederlage endlich da?«
    »Sie ist noch nicht da, meine Väter, aber sie kann beim nächsten Atemzug über uns kommen. Ich habe keine Zeit zu verlieren, nicht mal an diesem zeitlosen Ort. Schickt mir Ynnir.«
    »Der Jüngste von uns ... kommt ...«
Die Stimme verklang noch im Sprechen.
    Und dann erschien vor ihnen eine weitere Gestalt, näher und deutlicher als die anderen, ein großer Hirsch, der weit kräftiger schimmerte als seine Brüder. Zwischen seinen ausladenden Geweihstangen hing ein lavendelfarbener Lichtschein, das Wärmste in diesem ganzen kalten, dunklen Tal.
    »Saqri?«,
sagte er nach langem Schweigen.
»Geliebte? Wie bist du hierhergekommen?«
    »Auf Wegen, die ich nicht hätte nehmen dürfen und auf denen ich vielleicht nicht zurückfinden werde, selbst wenn du uns hilfst.« Ihre Stimme war so ruhig wie immer, aber ein angespannter Beiklang sagte Barrick, dass das hier kein freudiges Treffen war.
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