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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz
Autoren: Tad Williams
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loszurennen.
    »Natürlich«, sagte sie, und zum ersten Mal fand er ihre Stimme beruhigend. »Natürlich. Es ist für unsereinen schon schwer genug — um wie viel seltsamer und schmerzhafter also für einen wie dich. Deshalb werden wir dir jetzt Hilfe suchen.« Das Aufleuchten einer sich entfaltenden Schwinge, ein Strahl von weißem Sonnenlicht vor seinen Augen, und wieder war sie auf und davon. »Also komm, folge mir! Wir gehen dahin, wohin sich kein Sterblicher wagt, außer den Wenigen, die einen Weg zu träumen vermögen. Diese Reisenden zahlen dafür mit ihrem Glück und ihrer Ruhe. Wer weiß, was solchen wie uns, die wir weder Glück noch Ruhe besitzen, als Preis abverlangt wird?«
    Hinauf in die Berge rannte er, immer der blassen Form des Schwans folgend, die tief über das Gras vor ihm glitt. Die Äste der Bäume schnellten an ihm vorbei wie Pfeile, und seine Beine trugen ihn unermüdlich vom Zwielicht ins richtige Dunkel.
    Er rannte so schnell, dass er die Luft gar nicht spürte, und dennoch wuchs in ihm die Kälte, bildeten sich Eiskristalle in seinem Blut wie auf einem langsam fließenden Fluss, wenn der Winter hereinbricht. Und als es immer dunkler und kälter wurde, gelangte er in eine Landschaft, wo das Gras kahlem Boden wich und mächtige Steinhaufen aufragten, jeder düster und allein, trotz der tausend anderen um ihn herum. Das Licht war jetzt so bleich wie das des abnehmenden Mondes, aber da war kein Mond, nur schwarzer Himmel und ein fahler Schein, in dem die Steinhaufen aussahen, als wären sie keine materiellen Dinge mit Masse und Gewicht, sondern nur Geister von Steinen im Dunkel einer niemals endenden Mitternacht.
    Und als sie immer weiter in dieses stille, entmutigende Reich vordrangen, war der tief am Horizont schimmernde Schwan das Einzige, das ihn daran erinnerte, was Tageslicht gewesen war. Ihm fielen auch wieder Bruchstücke dessen ein, wer er war und was er hier machte.
    Bartick Edclon. Sohn des Königs von Südmark. Bruder von Briony und Kendrick.
    Er hatte sich den ganzen weiten Weg bis ins Herz des Zwielichtlerlands gekämpft, weil Fürstin Yasammez es ihm befohlen hatte. Er hatte einen Spiegel, der etwas von der Essenz eines Gottes enthielt, bis nach Qul-na-Qar gebracht, weil Gyir das Sturmlicht, Yasammez' Gefolgsmann, ihn darum gebeten hatte. Und jetzt trug er in sich die schmerzhafte Gabe der Feuerblume — das Leben, das Denken und die Erinnerung aller Qar-Könige, seit der Gott Kupilas das Geschlecht gezeugt hatte.
    Mein Blut stammt vom Blut eines Gottes ab. Kein Wunder, dass ich diesen schrecklichen Sturm im Kopf habe ...!
    Aber er hatte ihn nicht im Kopf, wurde ihm mit einem Schlag bewusst: Seit er in diese Lande gelangt war, war da in seinem Kopf nichts als seine eigenen Gedanken. Die Stimmen und Erinnerungen der Feuerblume waren verstummt. Er war in dieses vertraute, herrliche Alleinsein zurückgefallen, ohne auch nur zu merken, wie außergewöhnlich das inzwischen war.
    »Saqri! Saqri, wo sind die Stimmen geblieben?«
    »Wenn du die Feuerblumenahnen meinst — die kannst du jetzt nicht hören, aber sie werden wiederkommen. Hier bist du nicht mehr in deinem Land, wo sie nur in die Ohren von Krummlings Kindern zu sprechen vermögen. Wir sind in Lande hinübergewechselt, auf die du zuvor nur in deinen tiefsten und seltsamsten Träumen einen Blick erhascht hattest. Wir sind bei den Toten ... und den schlafenden Göttern.«
    Sie flog weiter, und Barrick rannte hinter ihr her, der Traum eines Menschen im Traum eines Pferdes — so folgte er der Zwielichtlerkönigin durch die endlosen, leeren Lande.
    Es war fast völlig dunkel, aber Barrick hatte keine Angst. Er konnte lediglich sehen, was direkt vor ihm war, und auch das nur undeutlich. In seinem Kopf war nichts außer seinen eigenen Gedanken. Gelegentlich brach Saqri ihr Schweigen, um etwas Ermutigendes zu ihm zu sagen oder eine kryptische Bemerkung zu machen. Schließlich waren sie so tief in das Tal vorgedrungen, dass die kahlen Berge sich zu beiden Seiten türmten und das Dunkel wie ein Tunnel war, in dem er nichts sah außer Saqris Weiß. »Wohin wollen wir?«
    »Wir sind da ... glaube ich.« Ihre Gedanken waren seltsam zögerlich. »Im Tal der Ahnen, hoffe ich zumindest ...«
    »Hofft Ihr? Was heißt das? Ihr wart doch schon hier, oder?«
    Jetzt lachte sie doch tatsächlich. Es war ein wildes Lachen. »Wie stellst du dir das vor? Das hier sind die jenseitigen Gefilde — wo die Toten hingehen. Und ich lebe doch
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