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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz
Autoren: Tad Williams
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eifersüchtig, als ihr Vater Tulim zur Kenntnis nahm und gelegentlich mit ihm sprach.
    »Wer war deine Mutter?«, fragte ihn Parnad beim ersten Mal. Der Autarch war ein Hüne, hochgewachsen, aber gleichzeitig so breit wie ein altes Krokodil. Für Tulim war es eine seltsame Vorstellung, dass dieser vierschrötige Mann mit dem dichten Bart der Erzeuger seines schlanken, langgliedrigen Körpers sein sollte. »Ah ja, ich erinnere mich. Wie eine Katze war sie. Du hast ihre Augen.«
    Tulim wusste nicht recht, ob »war« bedeutete, dass seine Mutter nicht mehr lebte, wollte aber nicht fragen, weil das vielleicht sentimental und weibisch wirken würde. Wenn er jedoch ihre Augen hatte, musste sie wirklich außergewöhnlich gewesen sein, denn das fiel den Leuten an ihm als Erstes auf: diese eigentümlichen, goldenen Augen, wie Tümpel von geschmolzenem Metall. Seine Augen waren einer der Gründe, warum er schon lange wusste, dass er nicht wie die anderen war — diese helle, alles verzehrende Flamme lohte in seinen Brüdern und den übrigen Kindern nicht auf die gleiche Art wie in ihm.
    Er und sein Vater, der Autarch, unterhielten sich noch öfter, wenn Tulim dabei auch nie viel sagte. Und nach einiger Zeit wurde Tulim aus dem Schlafgemach, das er mit ein paar Halbbrüdern teilte, in ein eigenes Zimmer verlegt, wo ihn der Autarch zu jeder Tages- und Nachtzeit besuchen konnte, ohne die anderen Prinzen zu stören. Außerdem begann Parnad, ihn allen möglichen grausamen und schmerzhaften Praktiken zu unterziehen und ihm dabei immer wieder zu erklären, welch schreckliche Verantwortung es bedeutete, der Bishakh zu sein — das Oberhaupt des Falkengeschlechts, das aus der Wüste gekommen war, um die Herrscherthrone der Städte dieser Welt in den Staub zu treten.
    »Die Götter lieben uns«, erklärte Parnad, während er Tulims Schmerzensschreie erstickte, indem er ihm den Mund zuhielt. »Sie haben bestimmt, dass der Falke höher fliegt als irgendein anderes Wesen — dass er auf die gesamte Schöpfung hinabblickt. Die Sonne selbst ist nur das Auge des mächtigen Falken.«
    Tulim verstand nicht immer, was sein Vater sagte, doch insgesamt machten ihm die Unterweisungen, verbunden mit dem Schmerz und anderen sonderbaren Gefühlen, klar, dass der Weg der Flamme und der Weg des Falken mehr oder minder eins waren:
Alles gehört demjenigen, der ohne Furcht zuzugreifen vermag. Diesen Mann lieben die Götter.
    Wenn die Besuche auch jahrelang weitergingen, schwor sich Prinz Tulim doch schon in jener ersten Nacht, eines Tages seinen Vater zu töten. Es war weniger der Schmerz, der nach Rache schrie, als vielmehr die Hilflosigkeit — die Flamme durfte nie durch den Schatten eines anderen verdunkelt werden, nicht mal durch den des Autarchen selbst.
    Als Tulim sich dem Alter näherte, da er den Status des Knaben ablegen und den Status des Mannes überstreifen würde wie ein neues Gewand, verbrachte er immer mehr Zeit in Gesellschaft eines anderen Erwachsenen, der seinen Wünschen und Bedürfnissen eher gerecht wurde. Es war der Mann, den er Onkel Gorhan nannte, einer der älteren Halbbrüder des Autarchen. Gorhan war von Parnads Vater mit einer Frau von höchst gewöhnlichem Blut gezeugt worden, daher bestand keine Gefahr, dass er den Thron an sich reißen könnte. Er hatte den Abstammungsmakel zu seinem Vorteil genutzt, indem er einer der verlässlichsten Ratgeber des Autarchen geworden war: ein überaus gelehrter und findiger Mann. Sein Verhältnis zu Tulim war weniger physisch und weniger metaphysisch als das des Autarchen: Er sah in dem Jüngling einen Geist, der seinem verwandt war, einen Geist, der sich bei rechter Schulung nicht nur über die Mauern des Obstgartenpalasts und die Grenzen von Xis hinausschwingen könnte, sondern durch all die endlosen Gänge und Flure der Schöpfung. Gorhan lehrte Tulim, wahrhaft zu lesen. Nicht nur die Schriftzeichen auf Pergament oder Papyrus zu erkennen und ihre Bedeutung zu entschlüsseln — das lernten alle Prinzen —, sondern zu lesen, um neues Wissen für das eigene Denken einzuspannen wie Zugochsen und die eigenen Ideen durch andere zu mehren wie die Soldaten eines Heeres, sodass die Macht des Lesenden immer größer wurde.
    Gorhan führte Tulim in die Werke großer Kriegsstrategen wie Kersus und Hereddin ein und machte ihn mit Historikern wie dem berühmten Pirilab bekannt. Tulim lernte, dass man in Büchern menschliche Gedanken über tausend Jahre bewahren konnte — dass die großen und
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