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Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Titel: Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)
Autoren: Carson McCullers
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losging, hatt ich so ’n Gefühl, als würdest du kommen. Ich hab’s in den Knochen gespürt, dass du unterwegs bist und dass du’s nicht mehr rechtzeitig schaffst.« Er knetete seine Nase mit dem Daumen, bis sie ganz weiß und platt aussah. »Das ist ja ’n Koffer?«
    »Sieht so aus«, sagte Jake. »Fühlt sich auch so an. Wenn du also an die Existenz von Koffern glaubst – dann wird’s wohl auch einer sein.«
    »Solltest nicht so lange hier rumstehn. Geh rauf und schmeiß mir deine nassen Sachen runter. Louis kann sie dir aufbügeln.«
    Jake setzte sich in eine der hinteren Nischen und stützte den Kopf in die Hände. »Nein, danke. Ich will hier bloß ein bisschen verschnaufen.«
    »Aber du hast ja ganz blaue Lippen. Siehst völlig erledigt aus.«
    »Bin ganz in Ordnung. Was zu essen hätt ich gern.«
    »Abendessen ist erst in ’ner halben Stunde fertig«, sagte Brannon geduldig.
    »Ein paar Reste tun’s auch. Leg mir irgendwas auf ’n Teller. Muss nicht erst aufgewärmt werden.«
    Die Leere in seinem Innern schmerzte ihn. Er mochte weder zurück- noch vorwärtsblicken. Er ließ zwei seiner kurzen, klobigen Finger über die Tischplatte spazieren. Über ein Jahr war es her, seitdem er das erste Mal an diesem Tisch gesessen hatte. Und war er heute weiter als damals? Nein, keinen Schritt. Er hatte einen Freund gewonnen und hatte ihn wieder verloren – weiter war nichts geschehen. Er hatte Singer alles gegeben, und dann hatte der Mann sich das Leben genommen. Und jetzt saß er in der Patsche und konnte sehen, wie er allein wieder herauskam und wieder von vorn anfing. Bei diesem Gedanken bekam er panische Angst. Er war müde. Er lehnte den Kopf an die Wand und legte die Füße auf den Stuhl neben sich.
    »Hier«, sagte Brannon. »Das geht wohl zur Not.«
    Er stellte ihm etwas Heißes zu trinken hin und einen Teller mit Hühnerpastete. Das Getränk duftete süß und würzig. Jake atmete den Dampf ein und schloss die Augen. »Was ist da drin?«
    »Zitronenschale auf Zucker abgerieben, Rum und kochendes Wasser. Ist was Gutes.«
    »Was bin ich dir schuldig?«
    »Weiß ich nicht so auf Anhieb, aber ich rechne es aus, wenn du gehst.«
    Jake nahm einen großen Schluck von dem Grog und gurgelte damit, bevor er ihn runterschluckte. »Das Geld kriegst du nie«, sagte er. »Ich kann’s dir nicht geben – auch wenn ich könnte, würd ich’s wahrscheinlich nicht tun.«
    »Na, hab ich denn gedrängelt? Hab ich dir je ’ne Rechnung gestellt und Geld von dir verlangt?«
    »Nein«, sagte Jake. »Bist sehr vernünftig gewesen. Und weil wir grad dabei sind: Du bist ’n richtig anständiger Kerl – das heißt: was das Persönliche betrifft.«
    Brannon setzte sich ihm gegenüber an den Tisch. Etwas schien ihm durch den Kopf zu gehen. Er schob den Salzstreuer hin und her und strich sich immer wieder über das Haar. Er roch nach Parfüm, und sein blaugestreiftes Hemd war frisch und sauber. Um die hochgekrempelten Ärmel trug er altmodische blaue Ärmelhalter.
    Endlich räusperte er sich zögernd und sagte: »Ich hab grad mal in die Abendzeitung gesehn, bevor du kamst. Scheint heute ziemlichen Stunk bei euch gegeben zu haben.«
    »Stimmt. Was steht denn drin?«
    »Warte mal. Ich hol sie.« Brannon holte die Zeitung von der Theke. »Da steht auf der ersten Seite, dass es bei der Sunny Dixie Show, da und da, zu allgemeinen Unruhen gekommen ist. Zwei Neger wurden durch Messerstiche tödlich verletzt. Drei weitere Neger wurden leicht verletzt und sind ins Krankenhaus eingeliefert worden. Bei den Toten handelt es sich um Jimmy Macy und Lancy Davis, bei den Verwundeten um den Weißen John Hamlin, wohnhaft Central Mill City, um den Neger Various Wilson und so weiter und so fort. Dann heißt es wörtlich: ›Es wurden mehrere Verhaftungen vorgenommen. Vermutlich sind die Unruhen durch Agitation unter der Arbeiterschaft entstanden, denn am Tatort und in dessen näherer Umgebung wurden Flugblätter umstürzlerischen Inhalts gefunden. Weitere Verhaftungen sind in Kürze zu erwarten.‹« Brannon klappte die Zähne zusammen. »Diese Zeitung wird auch jeden Tag schlechter. ›Umstürzlerisch‹ mit tz und ›Verhaftung‹ mit zwei f.«
    »Die sind aber schlau«, höhnte Jake. »›Durch Agitation unter der Arbeiterschaft entstanden.‹ Wirklich beachtlich.«
    »Jedenfalls ist die ganze Sache sehr bedauerlich.« Jake blickte, die Hand vor dem Mund, auf seinen leeren Teller.
    »Was hast du denn jetzt vor?«
    »Mich dünnemachen. Noch heute
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