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Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Titel: Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)
Autoren: Carson McCullers
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geh ich von hier weg.«
    Brannon polierte seine Nägel an der Handfläche. »Na ja, dringend nötig ist’s natürlich nicht – aber vielleicht ganz gut. Aber warum so Hals über Kopf? Hat doch keinen Sinn, dass du zu dieser Tageszeit aufbrichst.«
    »Ist mir lieber so.«
    »Hat schon was für sich, dass du neu anfangen willst. Andererseits – wenn du auf mich hörst… Ich – ich bin ja konservativ und find deine Ansichten ziemlich radikal. Also, andererseits betrachte ich die Dinge auch gern von verschiedenen Seiten. Jedenfalls – mir liegt dran, dass du wieder auf die Reihe kommst. Warum gehst du nicht irgendwohin, wo du ’n paar Leute findest, die mehr oder weniger von deiner Sorte sind? Und lässt dich dann dort nieder?«
    Jake schob gereizt seinen Teller fort. »Ich weiß nicht, wohin ich geh. Lass mich in Ruhe, ich bin müde.«
    Brannon zuckte mit den Schultern und ging wieder zur Theke.
    Wie müde er war! Der heiße Rum und das starke Rauschen des Regens draußen machten ihn schläfrig. Es war gut, sicher in dieser Ecke zu sitzen und was Ordentliches im Bauch zu haben. Eigentlich könnte er den Kopf auf den Tisch legen und ein Schläfchen machen – ein kurzes Schläfchen. Sein Kopf fühlte sich schon ganz dick und schwer an. Da war es viel bequemer, die Augen zu schließen. Aber nur ein kurzes Schläfchen, denn er musste sehen, dass er bald von hier wegkam.
    »Wie lange soll das denn noch weiterregnen?«
    Brannons Stimme klang matt. »Kann man nicht wissen – ist ein tropischer Wolkenbruch. Kann sich plötzlich aufklären – oder es wird erst mal weniger und fängt dann abends wieder an.«
    Jake legte den Kopf auf die Arme. Das Rauschen des Regens klang wie brandende Meereswogen. Er hörte eine Uhr ticken und weit weg das Klappern von Geschirr. Allmählich entspannten sich seine Hände und lagen, mit den Handflächen nach oben, auf dem Tisch.
    Dann schüttelte Brannon ihn an den Schultern und sah ihm ins Gesicht. Er war in einem grässlichen Traum gefangen. »Wach auf«, sagte Brannon. »Du hast schlecht geträumt. Ich hab rübergesehen, da hattest du den Mund offen und hast gestöhnt und mit den Füßen gescharrt. So was hab ich noch nicht erlebt.«
    Er war noch ganz benommen von dem Traum. Wieder dieses Entsetzen, das ihn beim Erwachen überkam. Er schob Brannon beiseite und stand auf. »Brauchst mir nicht zu erzählen, dass ich schlecht geträumt hab. Ich erinnere mich ja dran. Den Traum hab ich schon mindestens fünfzehnmal gehabt.«
    Und er erinnerte sich wirklich. Sonst waren die Traumbilder immer verschwunden, sobald er aufgewacht war. Viele, viele Menschen waren um ihn gewesen – wie auf dem Rummelplatz. Aber die Leute sahen irgendwie östlich aus. Die Sonne brannte fürchterlich, und die Leute waren halbnackt. Stumm und langsam bewegten sie sich vorwärts, und ihre Gesichter waren schrecklich ausgezehrt. Kein Laut war zu hören – da waren nur die Sonne und die schweigende Menschenmasse. Er ging zwischen ihnen und trug auf seinen Armen einen riesengroßen Korb. Er brachte den Korb irgendwohin, aber wo dieser Ort war – das fand er nie heraus. Das war das Grauenhafte an diesem Traum: dieses ewige Wandern und Wandern zwischen all den Menschen und nicht wissen, wo er die Last ablegen sollte, die er schon so lange trug.
    »Was war denn los?«, fragte Brannon. »War der Teufel hinter dir her?«
    Jake ging zum Spiegel hinter der Theke. Sein Gesicht war schmutzig und verschwitzt. Um die Augen hatte er dunkle Ringe. Er feuchtete sein Taschentuch unter dem Wasserhahn an und wischte sich das Gesicht ab. Dann zog er einen Taschenkamm heraus und kämmte sich den Schnurrbart glatt.
    »Ist weiter nichts dran an dem Traum. Das kann man bloß im Schlaf verstehn, warum das ein solcher Alptraum war.«
    Die Uhr zeigte fünf Uhr dreißig. Der Regen hatte fast aufgehört. Jake nahm seinen Koffer und ging zur Tür. »Wiedersehn. Vielleicht schreib ich dir mal ’ne Postkarte.«
    »Warte doch«, sagte Brannon. »Jetzt kannst du noch nicht gehn. Es regnet immer noch ein bisschen.«
    »Tropft doch bloß von der Markise. Ich möcht vor der Dunkelheit aus der Stadt raus sein.«
    »Immer langsam! Hast du denn Geld? Genug, um eine Woche lang über die Runden zu kommen?«
    »Ich brauch kein Geld. Bin schon öfter pleite gewesen.«
    Brannon hielt ihm einen Briefumschlag mit zwei Zwanzigdollarscheinen hin. Jake betrachtete sie von beiden Seiten und steckte sie dann in die Tasche. »Weiß der Himmel, warum du das tust.
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