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Das Herz ihrer Tochter

Das Herz ihrer Tochter

Titel: Das Herz ihrer Tochter
Autoren: Jodi Picoult
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einen Mann hinzurichten, als ihn vierzig Jahre
lang im Gefängnis unterzubringen.
    Ist sie gerecht? Ausschlaggebender als
die Hautfarbe des Häftlings ist anscheinend die des Opfers - ist das Opfer
weiß, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass gegen den Täter die Todesstrafe
verhängt wird. Außerdem werden nur ganz bestimmte Morde mit der Todesstrafe
geahndet - was die Vermutung nahelegt, dass die Justiz manche Tode für
schlimmer hält als andere.
    Die beste Erklärung für die Todesstrafe
hat ein anderer Autor geliefert, nämlich Scott Turow. Er sagt, die Todesstrafe
sei die erwachsene Version von »Du darfst nicht mehr in meinem Sandkasten
spielen«. So gibt unsere Gesellschaft einem Menschen zu verstehen, dass er
einfach nicht dazugehört, dass er niemals so sein wird wie wir.
    Diese Betonung gerade der Unterschiede
zwischen den Menschen und nicht ihrer Gemeinsamkeiten führte zu dem zweiten
thematischen Schwerpunkt der Recherchen für Das Herz ihrer Tochter - nämlich
die Geschichte der Religion. Jedermann weiß, welche Evangelien es in die Bibel
geschafft haben, aber nur sehr wenigen ist klar, dass diese redaktionelle
Entscheidung einen historischen Hintergrund hatte. 1945 gruben zwei Brüder in
der Nähe des kleinen ägyptischen Ortes Nag Hammadi nach einem natürlichen
Düngemittel. Dabei stießen sie auf einen Tonkrug voller in Leder gebundener
Schriften. Einige davon benutzten sie zum Feuermachen... und die Übrigen
gelangten in die Hände von Religionswissenschaftlern, die sie als die gnostischen
Evangelien identifizierten.
    Offenbar war das Christentum in den
Jahren nach Jesu Tod ein heilloses Durcheinander. Es gab zahlreiche Gruppen,
die sich Christen nannten, und alle glaubten etwas anderes. Eine dieser Gruppen
waren die Gnostiker. Gnosis bedeutet im Griechischen Erkenntnis, Wissen. Die
Gnostiker glaubten, dass Christsein ein guter Anfang war, dass aber spirituelle
Erleuchtung nur erreicht werden konnte, wenn man Zugang zu einem geheimen
Wissen fand - der Wahrheit, dass in jedem von uns etwas Göttliches steckt ...
und dass sich die Suche danach bei jedem Menschen anders gestaltet.
    Die gnostischen Christen glaubten, dass
man keinen Priester brauchte, um zu Gott zu finden, weil jeder Mensch ohnehin
ein Teil Gottes war. Jesus war kein Erlöser - bloß ein Lenker. Religion war
etwas zutiefst Persönliches - man konnte sich nicht sagen lassen, was man
glauben sollte, weil man seinen eigenen Weg zur spirituellen Erfüllung finden
musste. Um dieses Ziel zu erreichen, war es unerläßlich, Glaubensfragen zu
stellen, anstatt einfach nur zu glauben, was andere einem sagten. Die Gnostiker
richteten sich nach zahlreichen Evangelien, die diese geheime Lehre
verkündigten, darunter eines, das mir besonders gefällt, das Thomasevangelium.
Es scheint dem Buddhismus oder einem mystischen Judaismus näherzustehen als den
traditionellen Evangelien. Es steckt voller Rätsel und mysteriöser Zitate wie
zum Beispiel: »Wenn ihr das hervorbringt, was in euch ist, wird das, was in
euch ist, euch retten. Wenn ihr das, was in euch ist, nicht hervorbringt, wird
das, was in euch ist, euch töten.« Als ich das las, wusste ich genau, wie Shay
Bourne, meine Figur im Todestrakt, es auslegen würde - er würde sein Herz
spenden wollen.
    Man kann sich vorstellen, wie bedrohlich
die Überzeugungen der gnostischen Christen für die frühe christliche Kirche
waren, die noch um ihre innere Einheit rang. Irgendwann hatte der Bischof von
Lyon, Irenaus, genug, und er beschloss, den christlichen Glauben zu
vereinheitlichen. Er wählte vier Evangelien aus, die ihm wichtig waren -
Matthäus, Markus, Lukas, weil sie alle das Leben Jesu beschrieben, und
Johannes, weil er den Verfasser entfernt gekannt hatte -, und bezeichnete alle
übrigen Evangelien als Häresie, wodurch er eine redaktionelle Entscheidung
traf, die 2000 Jahre Bestand hatte.
    Hätte Irenaus das nicht getan, wäre das
Christentum wahrscheinlich im Chaos interner Machtkämpfe untergegangen. Dennoch
- das Kind wurde mit dem Bade ausgeschüttet. Indem die Kirche diese gnostischen
Texte verteufelte, verwarf sie auch die Überzeugung, dass spirituelle
Erleuchtung auf vielerlei Wegen zu erreichen ist - nicht nur auf dem einen Richtigen. Ist
es nicht ein faszinierender Gedanke, dass die Welt heute vielleicht ganz anders
aussähe, wenn Irenaus sich für ein gnostisches Evangelium entschieden hätte
statt für das Johannesevangelium?
    Und wenn ich eine Hoffnung mit meinem
Buch
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