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Das Herz ihrer Tochter

Das Herz ihrer Tochter

Titel: Das Herz ihrer Tochter
Autoren: Jodi Picoult
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blieben
dann direkt vor mir stehen, sodass ich mir den Neuling genau anschauen konnte.
Bourne war klein und schmächtig, mit kurz geschorenen braunen Haaren und Augen
wie das Karibische Meer. Ich kannte die Karibik, weil ich den letzten Urlaub
mit Adam dort verbracht hatte. Ich war froh, dass ich nicht solche Augen hatte.
Ich würde nicht gern mit jedem Blick in den Spiegel an etwas erinnert werden,
das ich nie wiedersehen würde.
    Und dann blickte Shay Bourne mich an.
    Vielleicht wäre das jetzt eine gute
Gelegenheit, mein Äußeres zu beschreiben. Mein Gesicht war der Grund, warum die
Aufseher mir nicht gern in die Augen schauten, warum ich mich manchmal am
liebsten in meiner Zelle verkroch. Die Geschwüre waren scharlachrot und lila
und schuppig. Sie reichten von der Stirn bis zum Kinn.
    Die meisten zuckten zusammen, wenn sie
mich sahen. Selbst die Höflichen, wie der achtzigjährige Missionar, der uns
einmal im Monat Broschüren brachte, mussten stets zweimal hingucken, als sähe
ich noch schlimmer aus, als sie mich in Erinnerung hatten. Aber Shay erwiderte
einfach meinen Blick und nickte, als wäre ich nicht anders als alle anderen.
    Ich hörte die Zellentür neben mir
zugleiten, das Rasseln von Ketten, als Shay die Hände durch die Klappe steckte,
um sich die Handschellen abnehmen zu lassen. Kaum waren die Aufseher wieder
weg, rief Crash: »Hey, Todeskandidat.«
    Keine Antwort aus Shay Bournes Zelle.
    »Hey, wenn Crash was sagt, hast du zu
antworten.«
    »Lass ihn in Ruhe, Crash«, seufzte ich.
»Gib dem armen Kerl fünf Minuten, um zu kapieren, was für ein Schwachkopf du
bist.«
    »Ooh, Todeskandidat, nimm dich lieber in
acht«, sagte Calloway. »Lucius will sich bei dir einschleimen, und sein letzter
Liebhaber guckt sich die Radieschen von unten an.«
    Ich hörte, dass ein Fernseher
eingeschaltet wurde, und dann hatte Shay wohl den Kopfhörer eingestöpselt. Wir
alle mussten einen benutzen, damit wir keinen Lärmkrieg gegeneinander führten,
wenn alle Geräte liefen. Ich war ein wenig verwundert, dass ein Todeskandidat
überhaupt Anspruch auf einen Apparat hatte - mit Sicherheit auch der eine
Spezialanfertigung, wie wir sie hatten, mit durchsichtigem Plastikgehäuse,
damit die Aufseher überprüfen konnten, ob wir Teile entnommen hatten, um
daraus Waffen zu basteln.
    Als Calloway und Crash anfingen, mich
(wie so häufig) im Chor zu beschimpfen, setzte auch ich den Kopfhörer auf und
machte den Fernseher an. Es war fünf Uhr, und ich wollte Oprah, die Show von Oprah
Winfrey, nicht verpassen. Aber als ich auf den Kanal umschalten wollte, tat
sich nichts. Der Bildschirm flackerte kurz, und dann lief dieselbe Sendung wie
auf dem Kanal, der zuvor eingestellt gewesen war. Ich zappte weiter, doch auf
allen Kanälen lief dasselbe Programm.
    »Hey.« Crash hämmerte gegen seine Tür.
»Hallo, Aufseher, der Kabelempfang ist im Arsch. Wir haben Rechte, hört ihr
...«
    Manchmal reicht so ein Kopfhörer einfach
nicht aus.
    Ich drehte die Lautstärke auf und sah mir
in den Lokalnachrichten einen Bericht über eine Benefizveranstaltung für die
Kinderstation eines Krankenhauses in der Nähe vom Dartmouth College an. Clowns
trieben Spaße, Luftballons wurden verteilt, und zwei Spieler von den Red Sox
gaben Autogramme. Die Kamera schwenkte auf ein Mädchen mit märchenblonden Haaren
und blauen Halbmonden unter den Augen, genau die Sorte Kind, die sich gut auf
dem Bildschirm macht, um die Leute zum Spenden zu animieren. »Ciaire Nealon«,
sagte die Reporterstimme aus dem Off, »wartet auf ein Herz.«
    Schluchz-schluchz, dachte ich. Wir haben alle Probleme. Ich nahm den Kopfhörer ab. Wenn
ich nicht Oprah hören konnte, wollte ich gar nichts hören.
    So kam es, dass ich Shay Bournes
allererstes Wort in Block I mitbekam. »Ja«, sagte er, und schwups war der
Kabelempfang wieder da.
     
    Inzwischen haben Sie vermutlich gemerkt,
dass ich was Besseres bin als die meisten Idioten in Block I, und zwar aus dem
einfachen Grund, weil ich eigentlich nicht hierhergehöre. Das Verbrechen, das
ich begangen habe, geschah aus Leidenschaft, genauer gesagt aus Eifersucht,
was mir allerdings vor Gericht keine mildernden Umstände einbrachte. Aber ich
frage Sie, was hätten Sie denn gemacht, wenn Ihr Freund, die Liebe Ihres Lebens, eine neue Liebe seines Lebens gefunden hätte - jemanden, der jünger ist, schlanker,
attraktiver?
    Paradoxerweise kann keine Strafe, die
irgendein Gericht auf dieser Welt wegen Mordes verhängt, die Strafe
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