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Das Herz ihrer Tochter

Das Herz ihrer Tochter

Titel: Das Herz ihrer Tochter
Autoren: Jodi Picoult
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überbieten,
die mich im Knast befallen hat. Meine letzte CD4+ lag sechs Monate zurück, und
ich war runter auf fünfundsiebzig Zellen pro Kubikmillimeter Blut. Bei einem
Menschen ohne HIV liegt die Anzahl der T-Zellen bei tausend oder mehr, doch das
Virus wird Teil dieser weißen Blutkörperchen. Wenn sich die weißen Blutkörperchen
vermehren, um eine Infektion zu bekämpfen, vermehrt sich auch das Virus. Je
schwächer das Immunsystem wird, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass ich
krank werde oder eine opportunistische Infektion wie eine durch PCP
hervorgerufene Lungenentzündung, Toxoplasmose oder eine CMV-Vireninfektion
bekomme. Die Arzte sagen, ich werde nicht an Aids sterben - ich sterbe an
einer Lungenentzündung oder TB oder einer bakteriellen Infektion im Gehirn.
Aber wenn Sie mich fragen, ist das Wortklauberei. Tot ist tot.
    Früher war Malen mein Beruf, jetzt war
Malen mein Hobby - obwohl es wesentlich schwieriger ist, mir im Knast meine
Utensilien zu beschaffen. Früher hatte ich eine Vorliebe für Ölfarben von
Winsor & Newton und Zobelhaarpinsel, für Leinwände, die ich selbst
bespannte und mit Gesso grundierte, jetzt benutzte ich alles, was ich in die
Hände bekam. Ich ließ mir von meinen Neffen Bilder auf dickem Papier malen,
mit Bleistift, damit ich alles ausradieren und das Papier wiederverwenden
konnte. Ich hortete die Essenssachen, die Farbstoffe enthielten. An dem Abend
malte ich an einem Porträt von Adam, natürlich aus dem Gedächtnis, weil mir
nichts als Erinnerungen geblieben waren. Ich hatte etwas Rot von einem Smartie
mit einem Klecks Zahnpasta im Deckel einer Saftflasche gemischt, in einem
zweiten Deckel Kaffee mit ein bisschen Wasser verrührt, und die Kombination von
beidem ergab genau den richtigen Farbton seiner Haut - wie satt glänzender
Sirup.
    Seine Konturen hatte ich bereits in
Schwarz vorgezeichnet - die hohe Stirn, das kräftige Kinn, die Adlernase. Mit
einer selbst gebastelten Messerklinge hatte ich die ebenholzfarbene Schicht vom
Foto einer Kohlegrube im National
Geographie abgeschabt und einen Klecks
Shampoo hinzugefügt, was eine kreidige Farbe ergab. Die hatte ich dann mit
einer abgebrochenen Bleistiftspitze auf meine provisorische Leinwand
aufgetragen.
    Mein Gott, wie schön er war.
    Es war nach drei Uhr morgens, aber
ehrlich gesagt, ich schlafe nicht viel. Wenn ich einschlafe, werde ich schon
bald wieder wach, weil ich aufs Klo muss. Auch wenn ich in letzter Zeit kaum
was zu mir nehme, das Essen rauscht mit Lichtgeschwindigkeit durch mich
hindurch. Ich habe Bauchschmerzen, Kopfschmerzen. Von dem Pilz in Mund und
Kehle habe ich Schluckbeschwerden. Also nutze ich meine Schlaflosigkeit für
meine Kunst.
    In der Nacht war ich in Schweiß gebadet
aufgewacht, und nachdem ich das Bett abgezogen und mein Unterhemd zum Trocknen
aufgehängt hatte, wollte ich mich nicht wieder hinlegen. Statt dessen holte
ich mein Bild hervor und fing an, Adam neu zu erschaffen. Doch ich wurde von
anderen Porträts abgelenkt, die ich von ihm gemalt hatte und die an der
Zellenwand hingen: Adam in der gleichen Pose wie damals, als er das erste Mal
für den Zeichenkurs Modell stand, den ich am College gab; Adams Gesicht, wenn
er morgens die Augen aufschlug. Adam, der einen Blick über die Schulter warf,
so wie er es getan hatte, als ich ihn erschoß.
    »Ich muss es tun«, sagte Shay Bourne. »Es
ist die einzige Möglichkeit.«
    Seit seiner Ankunft am Nachmittag hatte
er kein Wort gesagt, und ich fragte mich, mit wem er sich so tief in der Nacht
unterhielt. Aber es war außer mir keiner wach. Vielleicht hatte er einen
Albtraum. »Bourne?«, flüsterte ich. »Alles in Ordnung?«
    »Wer... ist da?«
    Er brachte die Worte mühsam heraus - kein
richtiges Stottern, eher so, als wäre jede Silbe ein Stein, den er
hervorpressen musste. »Ich bin Lucius. Lucius DuFresne«, sagte ich. »Mit wem
redest du?«
    Er zögerte. »Ich glaube, mit dir.“
    »Kannst du nicht schlafen?«
    »Ich kann schlafen«, sagte Shay. »Ich
will bloß nicht.«
    »Da hast du mehr Glück als ich«,
erwiderte ich.
    Es war scherzhaft gemeint, aber er faßte
es nicht so auf. »Du hast nicht mehr Glück als ich, und ich habe nicht mehr
Unglück als du«, sagte er.
    Na ja, in gewisser Weise hatte er recht.
Ich war zwar nicht zum Tode verurteilt worden wie Shay Bourne, aber wie er
würde ich innerhalb dieser Gefängnismauern sterben - eher früher als später.
    »Lucius«, sagte er. »Was machst du
gerade?“
    »Ich male.«
    Kurzes
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