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Das Herz ihrer Tochter

Das Herz ihrer Tochter

Titel: Das Herz ihrer Tochter
Autoren: Jodi Picoult
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Zögern. »Deine Zelle?“
    »Nein. Ein Porträt.“
    »Warum?«
    »Weil ich Künstler bin.«
    »Früher, in der Schule, hat eine
Kunstlehrerin mal gesagt, ich hätte einen klassischen Mund«, sagte Shay. »Ich
weiß bis heute nicht, was das heißt.«
    »Das bezieht sich auf die alten Griechen
und Römer«, erklärte ich. »Und die Art der Darstellung in der Kunst, wie wir
sie in -«
    »Lucius? Hast du das heute im Fernsehen
gesehen ... die Red Sox...«
    Jeder in Block I hatte eine
Lieblingsmannschaft, ich eingeschlossen. Wir schrieben akribisch die
Ergebnisse von allen Ligaspielen auf und diskutierten sämtliche
Schiedsrichterentscheidungen, als wären wir Richter am Obersten Bundesgericht.
Manchmal wurden die Hoffnungen unserer Teams, wie unsere eigenen, früh
zerstört, dann wieder kämpften sie um die Meisterschaft, und wir fieberten
mit. Doch die Saison hatte noch gar nicht begonnen, weshalb heute auch kein
Spiel übertragen worden war.
    »Curt Schilling hat an einem Tisch
gesessen«, sprach Shay weiter, noch immer auf der Suche nach den richtigen
Worten. »Und dann war da ein kleines Mädchen -«
    »Meinst du die Benefizveranstaltung? Die
in dem Krankenhaus?«
    »Die Kleine«, sagte Shay. »Ich werde ihr
mein Herz geben.«
    Ehe ich antworten konnte, ertönte ein
lautes Krachen und dann das dumpfe Geräusch, als würde ein Körper auf dem Betonboden
aufschlagen. »Shay?«, rief ich. »Shay?!«
    Ich preßte das Gesicht gegen das
Plexiglas. Ich konnte Shay nicht sehen, aber ich hörte, wie irgend etwas
rhythmisch gegen seine Zellentür schlug. »He!«, brüllte ich aus vollem Hals.
»He, wir brauchen hier Hilfe.«
    Die anderen wurden nach und nach wach,
beschimpften mich, weil ich sie aus dem Schlaf gerissen hatte, und verstummten
dann fasziniert. Zwei Aufseher kamen in den Block gestürzt, ihre Schutzweste
noch nicht ganz geschlossen. Einer von ihnen, Kappaletti, gehörte zu der
Sorte, die Aufseher geworden waren, damit sie immer jemanden hatten, den sie
schikanieren konnten. Der andere, Smythe, hatte sich mir gegenüber stets
korrekt verhalten. Kappaletti blieb vor meiner Zelle stehen. »DuFresne, wenn
du hier blinden Alarm schlägst -«
    Aber Smythe ging bereits vor Shays Zelle
in die Knie. »Ich glaub, Bourne hat einen Anfall.« Er griff nach seinem
Funkgerät, und gleich darauf glitt die elektronische Tür auf, und weitere
Aufseher kamen herein.
    »Atmet er noch?«, fragte einer.
    »Drehen wir ihn um, bei drei, eins,
zwei...«
    Die Rettungssanitäter trafen ein und
schoben Shay kurz darauf auf einer Rolltrage an meiner Zelle vorbei. Er war an
den Schultern, am Bauch und an den Beinen festgeschnallt. Solche Tragen wurde
auch für den Transport von Insassen wie Crash benutzt, die selbst mit Hand- und
Fußschellen nicht zu bändigen waren, oder für Insassen, die einfach zu krank
waren, um auf eigenen Beinen zur Krankenstation zu gehen. Ich ging davon aus,
dass ich Block I irgendwann auf so einer Rolltrage für immer verlassen würde.
Aber jetzt kam mir der Gedanke, dass sie stark an den Tisch erinnerte, auf dem
Shay eines Tages festgeschnallt liegen würde, um seine Giftspritze zu
erhalten.
    Die Sanitäter hatten Shay eine
Sauerstoffmaske aufgesetzt, die mit jedem Atemzug beschlug. Seine Augen waren
in den Höhlen nach oben gedreht, weiß und blind. »Tut für ihn, was ihr könnt«,
sagte Aufseher Smythe, und da begriff ich, dass der Staat einen todkranken Mann
rettet, nur um ihn später töten zu können.
     
    MICHAEL
     
    Ich liebte so allerhand an der Kirche.
    Zum Beispiel das Gefühl, das ich bekam,
wenn während der Sonntagsmesse zweihundert Stimmen zur Decke aufstiegen. Oder
das leichte Zittern meiner Hand, wenn ich jemandem bei der heiligen Kommunion
die Hostie überreichte. Ich liebte die Verblüffung im Gesicht eines Teenagers,
der sehnsüchtig die 1969er Triumph Trophy bestaunte, die ich wieder aufgemöbelt
hatte, und dann erfuhr, dass ich Priester war, dass es sich nicht gegenseitig
ausschloß, cool und katholisch zu ein.
    Ich war der Jungpriester von St.
Catherine, einer von nur vier Gemeinden, die für ganz Concord, New Hampshire,
zuständig waren. Jeder Tag hatte unweigerlich viel zu wenig Stunden. Father
Walter und ich hielten abwechselnd die Messen und nahmen Beichten ab.
Gelegentlich sprangen wir als Vertretungslehrer an der Gemeindeschule im
Nachbarort ein. Immer gab es Gemeindemitglieder zu besuchen, die krank oder
verwirrt oder einsam waren; immer waren Rosenkränze zu beten. Aber selbst
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