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Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Titel: Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
Autoren: John Boyne
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noch ein bisschen spazieren gehen«, sagte sie unternehmungslustig. »Was meinst du?«
    »Es ist schon spät«, erwiderte ich. »Draußen mag es hell sein, aber du solltest zusehen, dass du ein wenig Schlaf bekommst. Wir können doch morgen Vormittag einen Stadtbummel machen.«
    »Nein, noch heute Nacht«, bat sie mich flehentlich. »Nur ganz kurz. Oh, bitte, Georgi! Am Flussufer entlangzuspazieren in einer Nacht wie dieser … wir können doch nicht so weit gereist sein und dann darauf verzichten.«
    Ich gab nach, natürlich. Ich hätte ihr ohnehin jeden Wunsch erfüllt. »In Ordnung«, sagte ich. »Aber wir müssen uns warm anziehen. Und wir sollten nicht allzu lange draußen bleiben.«
    Binnen einer Stunde verließen wir das Hotel in Richtung Flussufer. Dort schlenderten Hunderte von Menschen entlang, Arm in Arm, die helle Nacht genießend – es war ein gutes Gefühl, mit ihnen eins zu sein. Wir machten Halt, um das Standbild des Bronzenen Reiters im Alexandergarten zu betrachten, und schauten zu, wie sich die Touristen davor fotografieren ließen. Beim Gehen wechselten wir kaum ein Wort, wir wussten, wohin uns unsere Füße tragen würden, wollten den Augenblick aber nicht kaputtmachen, indem wir davon sprachen, bevor wir dort angekommen waren.
    Als wir die Admiralität passiert hatten, bogen wir nach rechts ab und sahen uns kurz darauf dem Generalstabsgebäude gegenüber, das den Palaisplatz umgab. Vor uns erhob sich die Alexandersäule, und dahinter stand, so strahlend und mächtig, wie ich es in Erinnerung hatte – das Winterpalais.
    »Ich muss an die Nacht denken, als ich hier angekommen bin«, sagte ich leise. »Ich kann mich so deutlich daran erinnern, wie ich an dieser Säule vorbeigekommen bin, als wäre es erst gestern gewesen. Die Soldaten, die mich begleitet hatten, setzten mich an der Seite des Palastes ab, und Graf Tscharnetzki beäugte mich, als wäre ich etwas, das er an seinem Stiefelabsatz entdeckt hatte.«
    »Er war ein alter Brummbär«, sagte Soja lächelnd.
    »Ja. Und dann wurde ich nach drinnen geführt, um deinem Vater vorgestellt zu werden.« Ich schüttelte den Kopf und seufzte tief, bemüht, mich von meinen Erinnerungen nicht überwältigen zu lassen. »Das liegt mehr als sechzig Jahre zurück«, sagte ich kopfschüttelnd. »Es ist unglaublich!«
    »Los, komm«, sagte sie und führte mich auf den Palast zu. Vorsichtig folgte ich ihr. Sie war verstummt. Ihr Kopf war zweifellos von noch mehr Erinnerungen an diesen Ort erfüllt, als der meine – denn dies war schließlich der Ort, an dem sie aufgewachsen war. Hinter diesen Mauern hatten sie und ihre Geschwister ihre Kindheit verbracht.
    »Der Palast dürfte um diese Uhrzeit geschlossen sein«, sagte ich. »Morgen vielleicht, falls du reingehen möchtest …«
    »Nein«, sagte sie schnell. »Nein, das möchte ich nicht. Das hier reicht mir vollkommen. Schau, Georgi, erinnerst du dich noch?«
    Wir standen in dem kleinen Geviert zwischen der Haupteinfahrt und den Türen, und uns umgaben die zwölf Kolonnaden, wo damals der Reiter so schnell vorübergaloppiert war, dass sie mir erschrocken in die Arme gefallen war. Es war die Stelle, wo wir uns zum ersten Mal geküsst hatten.
    »Und bis dahin hatten wir noch kein einziges Wort gewechselt«, sagte ich und musste schmunzeln, als ich mich daran erinnerte.
    Soja beugte sich vor und umarmte mich erneut, stand vor mir, an derselben Stelle, wo wir damals, vor all diesen Jahren, gestanden hatten. Als wir uns diesmal voneinander lösten, fiel uns das Sprechen schwer. Ich spürte, wie mich meine Gefühle erneut zu übermannen drohten, und zweifelte einen Moment, ob es tatsächlich eine gute Idee gewesen war, hierherzukommen. Ich sah zurück auf den Platz und holte mein Taschentuch hervor, um mir damit die Augenwinkel abzutupfen, fest entschlossen, die Fassung zu bewahren.
    »Soja«, sagte ich und drehte mich zu ihr hin, doch sie stand nicht mehr neben mir. Ich blickte besorgt um mich, und es dauerte nicht lange, bis ich sie entdeckt hatte. Sie war in den Garten geschlüpft, der sich zwischen uns und der Palasttür befand, und saß nun auf der Umrandung des Springbrunnens. Ich beobachtete sie und dachte daran, wie ich sie schon einmal dort sitzen gesehen hatte, ihr Gesicht im Profil, und in diesem Moment wandte sie mir den Kopf zu und lächelte mich an.
    Als wäre sie wieder das Mädchen von damals.
    Wir gingen langsam am Ufer der Newa entlang zum Hotel zurück.
    »Die Palaisbrücke«, sagte Soja und
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