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Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Titel: Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
Autoren: John Boyne
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nach Hause zurückkehrte und von Bolschewiki überfallen wurde, als Vergeltung für das, was ich getan hatte. Ich sehe mich selbst, wie ich in Todesangst über die Bahngleise haste und im Wald dahinter verschwinde, während er auf seinem Heimweg die Straße entlangschlurft, keuchend und stoßweise hustend, ohne zu ahnen, dass er in Lebensgefahr schwebt. In meiner Eitelkeit stelle ich mir vor, dass mein Verschwinden große Schande über meine Familie und unser kleines Dorf gebracht hatte, eine Schmach, die nach Vergeltung schrie. Ich stelle mir eine Gruppe von jungen Männern aus unserem Dorf vor – in meinen Träumen sind es stets vier Männer, große, hässliche, brutale Typen –, die mit Knüppeln über ihn herfallen und ihn von der Straße in die Dunkelheit einer schmalen Gasse zerren, um ihn dort ohne Zeugen totschlagen zu können. Ich höre ihn nicht um Gnade flehen, denn das wäre nicht seine Art gewesen. Ich sehe das Blut auf den Steinen, wo er liegt. Ich erhasche einen flüchtigen Blick auf eine Hand, die sich langsam bewegt, eine zitternde Hand mit sich verkrampfenden Fingern. Eine Hand, die schließlich erstarrt.
    Denke ich an meine Mutter, Julia Wladimirowna, so stelle ich mir vor, dass Gott sie ein paar Jahre später zu sich rief, als sie in ihrem Bett lag, hungrig, entkräftet, mit meinen wehklagenden Schwestern an ihrer Seite. Ich kann mir nicht vorstellen, welches Elend sie nach dem Tod meines Vaters zu erdulden hatte, und ich will es auch nicht wissen, denn obwohl sie eine herzlose Frau war, die mich zu jedem Zeitpunkt meiner Kindheit spüren ließ, wie wenig sie mich mochte, war sie doch meine Mutter, und ein solcher Mensch ist heilig. Ich male mir aus, wie meine älteste Schwester Asja ihr ein kleines Porträtfoto von mir zwischen die Hände steckt, als Mutter diese zum letzten Mal zum Gebet faltet, um sich in stiller Bußfertigkeit darauf vorzubereiten, ihrem Schöpfer gegenüberzutreten. Der Schleier ist an ihrem dünnen Hals zusammengerafft, ihr Gesicht ist weiß, ihre Lippen sind bleich mit einem Stich ins Bläulichgrüne. Asja mochte mich, aber sie beneidete mich um mein Entkommen aus unserer dörflichen Enge. Auch daran erinnere ich mich. Einmal begab sie sich auf die Suche nach mir, doch als sie mich gefunden hatte, zeigte ich ihr die kalte Schulter – etwas, wofür ich mich heute noch schäme.
    Natürlich muss es nicht so gewesen sein. Das Leben meiner Mutter, meines Vaters und meiner Schwestern kann auch völlig anders geendet haben: glücklich, tragisch, gemeinsam, voneinander getrennt, friedlich, gewaltsam, doch ich habe keine Möglichkeit, dies in Erfahrung zu bringen. Es gab nie einen Moment, wo ich hätte zurückkehren können, nie eine Gelegenheit, Asja oder Liska zu schreiben oder sogar Tajla, die sich womöglich nicht mehr an ihren großen Bruder Georgi erinnerte, den Helden und die Schande ihrer Familie. Zu ihnen zurückzukehren, hätte sie alle in Gefahr gebracht, es hätte mich in Gefahr gebracht, es hätte Soja in Gefahr gebracht.
    Doch egal, wie viele Jahre verstrichen sind, ich denke noch immer an sie. Es gibt große Abschnitte meines Lebens, die mich ratlos machen, Jahrzehnte der Arbeit und des Familienlebens, des Sichabrackerns, des Treuebruchs, des Verlustes und der Enttäuschung, Dinge, die sich heillos vermischt haben und fast unmöglich voneinander zu trennen sind, doch viele Momente aus jenen Jahren, aus jenen frühen Jahren, sind mir im Gedächtnis haften geblieben und hallen noch immer nach. Und wenn sie als Schatten durch die dunklen Korridore meines alternden Geistes streichen, so sind sie umso lebendiger und bemerkenswerter angesichts der Tatsache, dass sie niemals vergessen sein werden. Selbst wenn ich es in Kürze sein werde.
    Es ist mehr als sechzig Jahre her, dass ich jemanden aus meiner Familie gesehen habe. Es ist fast unglaublich, dass ich dieses Alter erreicht habe, zweiundachtzig, und nur einen so kurzen Abschnitt der mir gewährten Zeit unter meinen engsten Angehörigen verbracht habe. Ich habe meine Pflichten ihnen gegenüber vernachlässigt, auch wenn ich dies damals nicht so empfunden habe. Denn ich hätte mein Schicksal genauso wenig ändern können wie meine Augenfarbe. Die Umstände führten mich von einem Moment zum nächsten, und dann zum nächsten, und dann wieder zum nächsten, so wie es bei allen Menschen der Fall ist, und ich machte jeden dieser Schritte, ohne mir groß den Kopf darüber zu zerbrechen.
    Und eines Tages hielt ich dann inne.
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