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Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Titel: Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
Autoren: John Boyne
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Maschinennäherin bei Newsom’s antrat. Das ist so lange her, ich war so jung, und das Leben war schwer, und dennoch würde ich jetzt buchstäblich alles geben, um noch einmal dorthin zurückkehren zu können, um zu begreifen, welches Glück mir beschieden war. Meine Jugend und meine Frau zu haben, und unsere Liebe – und unser Leben noch vor uns.
    Ich schließe meine Augen und schlucke. Nein, ich werde nicht weinen. Ich weiß, heute Nacht werden mir die Tränen kommen. Aber jetzt noch nicht.
    »Ist es hier okay, Sir?«, fragt mich der Taxifahrer, als er am Besuchereingang vorfährt, und ich sage, ja, das sei genau richtig, und stecke ihm den erstbesten Geldschein zu, der mir in die Finger kommt – es ist zu viel, ich weiß, doch es kümmert mich nicht. Ich steige in die kalte Nachtluft hinaus, zögere kurz am Eingang und gehe erst hinein, als ich das Taxi wegfahren höre.
    Eine blasse, müde aussehende junge Frau in der Aufnahme teilt mir mit, dass Soja nicht mehr auf der onkologischen Station liegt. Man habe sie in ein Einzelzimmer im dritten Stockwerk verlegt.
    »Ihr Akzent«, sage ich. »Sie stammen nicht aus England, stimmt’s?«
    »Ja«, erwidert sie, wobei sie nur kurz aufblickt, um sich dann gleich wieder ihrem Papierkram zu widmen. Sie will mir offenbar nicht erzählen, wo sie herkommt, aber ich bin mir sicher, sie stammt irgendwo aus Osteuropa. Nicht aus Russland, so viel steht fest. Aber vielleicht aus Jugoslawien. Oder aus Rumänien. Aus einem dieser Länder.
    Ich betrete den Fahrstuhl und drücke auf den mit »3« beschrifteten Knopf. Auch wenn der Anruf nicht allzu explizit gewesen ist, weiß ich, was es bedeutet, wenn jemand in diesem Stadium einer Krankheit in ein Einzelzimmer verlegt wird. Ich bin froh, dass der Fahrstuhl leer ist. So kann ich ungestört meine Gedanken ordnen und mich sammeln. Aber nur kurz, denn schon stehe ich auf dem langen, weißen Flur, an dessen Ende das Schwesternzimmer liegt. Als ich langsam darauf zugehe, vernehme ich die Stimmen eines jungen Mannes und einer älteren Frau, die sich drinnen unterhalten. Er erzählt von einem Bewerbungsgespräch, das ihm bevorstehe und bei dem es offenbar um seine Beförderung im Krankenhaus gehen soll. Er hält inne, als er mich in der Tür stehen sieht, und verzieht angesichts dieser Störung verärgert das Gesicht, bevor ich auch nur ein Wort sagen kann. Womöglich hält er mich für einen der älteren Patienten aus einer der vielen Abteilungen, die von diesem Flur abzweigen wie die Arme eines Kraken. Vielleicht denkt er, dass ich mich verlaufen habe, dass ich nicht einschlafen kann oder ins Bett gemacht habe. Was natürlich lächerlich ist. Ich bin vollständig angezogen. Ich bin einfach nur alt.
    »Mr Jatschmenew«, sagt eine Stimme in seinem Rücken. Es ist Dr. Crawford, die jetzt nach einem Klemmbrett greift, an dem sich ein ganzer Stapel von Krankenblättern befindet. »Sie haben es aber schnell hierher geschafft.«
    »Ja«, sage ich. »Wo ist Soja? Wo ist meine Frau?«
    »Sie ist gleich da drüben«, erwidert sie und nimmt mich beim Arm. Ich weise ihre Hand zurück, vielleicht etwas heftiger als nötig. Aber ich bin nicht krank, und ich möchte auch nicht so behandelt werden. »Verzeihung«, sagt sie leise, und dann führt sie mich an ein paar Türen vorbei, hinter denen sich … ja, wer befindet sich dort? Die Toten und die Sterbenden und die Trauernden – drei Zustände, die ich binnen Kurzem alle selber kennenlernen werde.
    »Was ist passiert?«, frage ich. »Ich meine, heute Abend. Nachdem ich gegangen bin. Wieso hat sich ihr Zustand so schnell verschlechtert?«
    »Es kam völlig unerwartet«, sagt sie. »Aber das ist, ehrlich gesagt, nichts Ungewöhnliches. Die letzten Stadien sind leider nicht vorhersehbar. Einem Patienten kann es wochenlang, manchmal sogar monatelang, relativ gut gehen, also nicht besser, aber auch nicht schlechter, und dann kann sich sein Zustand von einem Tag auf den andern rapide verschlechtern. Wir haben Ihre Frau von der Station in dieses Zimmer verlegt, denn dort sind Sie beide ungestört.«
    »Aber ihr Zustand …« Ich halte inne; ich will mir nichts vormachen, muss die Frage aber trotzdem stellen. »Ihr Zustand könnte sich doch auch wieder verbessern, oder? Ich meine, so schnell, wie er sich verschlimmert hat. Ist das möglich?«
    Dr. Crawford bleibt vor einer geschlossenen Tür stehen und schenkt mir ihr angedeutetes Lächeln, wobei sie mir mit der Hand über den Arm streicht. »Nein, leider
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