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Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Titel: Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
Autoren: John Boyne
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die Tassen, gießt kochendes Wasser darüber und drückt sie mit einem Teelöffel gegen die Tassenwand, anstatt eine richtige Kanne aufzubrühen – wäre seine Großmutter da, so würde sie ihm jetzt die Leviten lesen.
    »Du musst dich nicht sofort entscheiden«, sagt er, als er mir gegenüber Platz nimmt und die Tassen abstellt. »Aber du weißt, dass du zu uns kommen kannst, nicht wahr? Ich meine, dass du bei uns wohnen kannst. Dad ist sicher einverstanden.«
    »Ich weiß«, sage ich und lächle ihn an. »Und ich bin euch beiden auch sehr dankbar dafür. Aber ich denke, nein. Ich bin noch ziemlich gut beieinander, oder? Ich komme allein klar. Du wirst mich aber besuchen kommen, nicht wahr?«, frage ich nervös und bin mir zugleich nicht sicher, warum ich ihn dies frage, denn ich kenne die Antwort bereits.
    »Natürlich werde ich das«, sagt er und reißt dabei seine Augen weit auf. »Bei Gott! Jeden Tag, wenn ich es einrichten kann.«
    »Michael, wenn du hier jeden Tag aufkreuzt, werde ich dir nicht die Tür aufmachen!«, erwidere ich. »Du musst dich um dein eigenes Leben kümmern.«
    »Also dann zweimal die Woche«, sagt er.
    »Na schön«, sage ich, denn ich habe keine Lust, lange mit ihm herumzufeilschen.
    »Du weißt, dass mein Stück demnächst anläuft, oder? Heute in zwei Wochen. Du kommst doch zur Premiere, nicht wahr?«
    »Ich werde es versuchen«, sage ich, denn ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich ohne Soja an meiner Seite dort hingehen möchte. Ohne Anastasia. Ich sehe den enttäuschten Ausdruck auf seinem Gesicht und lächle ihn an, um ihn zu beruhigen. »Ich werde tun, was ich kann«, sage ich. »Das verspreche ich dir.«
    »Danke.«
    Wir sitzen noch eine Weile zusammen und reden, und dann sage ich ihm, dass er nun nach Hause gehen soll, dass er müde sein müsse, da er die ganze Nacht auf gewesen sei.
    »Aber nur, wenn du dir sicher bist, dass du mich nicht mehr brauchst«, sagt er, wobei er sich erhebt, sich reckt und laut gähnt. »Ich meine, ich könnte auch hier schlafen, wenn du willst.«
    »Nein, nein«, sage ich. »Es ist Zeit, dass du nach Hause gehst. Wir sollten uns beide ein bisschen aufs Ohr legen. Und ich glaube, ich wäre jetzt ganz gern ein wenig allein, wenn es dir nichts ausmacht.«
    »Okay«, sagt er und zieht sich seinen Mantel an. »Ich schaue heute Abend wieder bei dir vorbei, um zu sehen, wie du so zurechtkommst. Es müssen noch …«, er hält inne, beschließt aber, es einfach zu sagen. »Du weißt, es müssen bestimmte Vorbereitungen getroffen werden.«
    »Ich weiß«, sage ich, als ich ihn zur Tür begleite. »Aber darüber können wir uns später noch unterhalten. Ich sehe dich heute Abend.«
    »Also dann bis später, Pops«, sagt er, wobei er sich vorbeugt und mich auf die Wange küsst. Dann umarmt er mich, dreht sich aber gleich von mir weg, damit ich die Trauer nicht sehe, die ihm ins Gesicht geschrieben steht. Ich schaue ihm dabei zu, wie er die Stufen zur Straße hinaufstürmt, seine langen, kräftigen Beine, die ihn überall hintragen werden, wohin er will. Noch einmal so jung sein dürfen! Ich schaue ihm nach und frage mich, wie er es immer schafft, genau in dem Moment aufzubrechen, in dem ein Bus auftaucht, als wollte er nicht eine Sekunde seines Lebens damit vergeuden, wartend an einer Straßenecke herumzustehen. Er springt hinten auf den Bus auf und hebt eine Hand, als er sich zu mir umdreht – der ungekrönte Kaiser und Selbstherrscher von ganz Russland winkt seinem Großvater von der hinteren Plattform eines die Straße hinuntersausenden Londoner Doppeldeckers zu, während sich ihm der Schaffner nähert, um das Fahrgeld zu kassieren.
    Ich komme nicht umhin zu lachen. Ich mache die Tür hinter mir zu und setze mich wieder. Als ich mir das Ganze noch einmal vergegenwärtige, finde ich es tatsächlich so komisch, dass ich erneut lachen muss. Ich lache, bis es in ein Weinen übergeht.
    Und als mir die Tränen kommen, denke ich, ach …
    So ist das also, wenn man allein ist.

 
    Deutsche Erstausgabe
    2. Auflage 2010
    © by Arche Literatur Verlag AG, Zürich – Hamburg, 2010
    Alle Rechte vorbehalten
    Die Originalausgabe erschien 2009
unter dem Titel The House of Special Purpose bei Doubleday, London
    Copyright © John Boyne 2009
    Aus dem Englischen von Fritz Schneider
    Cover: Kathrin Steigerwald, Hamburg
    Cover-Motiv: © Art Wolf / getty images
    E-Book-Umsetzung: Reemers Publishing Services GmbH, Krefeld
    ISBN
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