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Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Titel: Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
Autoren: John Boyne
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antwortete der Mann, und dann verließen all die schweren Stiefel wieder den Raum, und nur meine Familie blieb darin zurück.
    Ich war hin und her gerissen. Brachte man meine Eltern und meine Geschwister in eine andere Stadt, so sollte ich natürlich bei ihnen sein. Aber du, Georgi, hast auf mich gewartet. Du warst so nahe. Vielleicht konnte ich dich noch einmal treffen und dir erzählen, wo man uns hinbrachte, und dann würdest du uns folgen und dir etwas einfallen lassen, um mich zu befreien. Ich überlegte noch, was ich tun sollte, als ich hörte, wie wieder ein Soldat hereinkam und eine Frage stellte, die ich akustisch nicht verstehen konnte, aber mein Vater antwortete: »Ich weiß es nicht. Ich habe sie heute Abend noch nicht gesehen.« Ich nahm an, dass sie über mich sprachen, dass die Soldaten nach mir suchten, doch ich blieb, wo ich war, und kurz darauf war es wieder still im Zimmer.
    Schließlich stand ich auf. Das Fenster lag so hoch, dass man von drinnen nur die obere Hälfte meines Gesichts hätte sehen können. Ich riskierte einen Blick in den Raum, den ich in der Vergangenheit bei so vielen Gelegenheiten gesehen hatte. Er war immer leer gewesen, aber nun standen dort zwei Stühle nahe der Wand. Vater saß auf einem davon, mit Alexei auf dem Schoß. Mein Bruder befand sich im Halbschlaf und döste in Vaters Armen vor sich hin. Mutter saß neben den beide n – sie machte einen besorgten Eindruck und nestelte an der langen Perlenkette, die um ihren Hals hing. Olga, Tatjana und Maria standen hinter ihnen, und ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht ebenfalls dort war. In diesem Moment sah Maria zum Fenste r – womöglich hatte sie meinen Blick gespür t – , und als sie mich erblickte, sagte sie meinen Namen.
    »Anastasia.«
    Vater und Mutter drehten sich um und schauten in meine Richtung, und für einen kurzen Augenblick trafen sich unsere Blicke. Mutter sah schockiert aus, als fände sie es unerhört, dass ich mich da draußen herumtrieb, doch Vate r … er warf mir einen glühenden Blick zu, seine Augen hellwach und entschlossen. Er hob die Hand, Georgi. Er gab mir mit einer Geste zu verstehen, ich solle bleiben, wo ich war. Es kam mir wie ein Befehl vor, wie eine Anordnung des Zaren. Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch bevor ich Worte fand, wurde die Tür aufgestoßen, und meine Familie sah sich ihren Bewachern gegenüber.
    Die Soldaten nahmen wortlos in einer Reihe Aufstellung. Dann holte ihr Anführer ein Stück Papier aus seiner Tasche. Er sagte, es tue ihm leid, aber unsere Familie könne nicht gerettet werden, und bevor ich überhaupt verstand, wie er das gemeint hatte, zog er eine Pistole und schoss meinem Vater in den Kopf. Er erschoss den Zaren, Georgi! Meine Mutter bekreuzigte sich, meine Schwestern schrien und umarmten einander, doch sie hatten keine Zeit, um etwas zu sagen oder in Panik zu geraten, denn in diesem Moment zog jeder der Soldaten eine Pistole hervor, und dann schossen sie. Sie knallten sie ab wie Tiere. Sie brachten sie um, einfach so. Und ich schaute dabei zu. Ich sah, wie sie zu Boden sanken. Ich sah, wie ihr Blut floss und wie sie starben.
    Und dann wandte ich mich a b – und lief.
    Ich erinnere mich nur noch daran, dass ich die Bäume erreichen und dass ich das Haus hinter mir lassen wollte. Ich konzentrierte mich auf das Gehölz, wo du auf mich warten wolltest. Beim Laufen stolperte ich über irgendetwas und fiel hin. Ich fiel hin, und ich landete in deinen Armen.
    Ich hatte dich gefunden. Du hattest auf mich gewartet.
    Und den Res t … den Rest kennst du, Georgi.
    Es dauerte zwei Tage, bis wir völlig erschöpft in Minsk eintrafen. Wir standen in der Bahnhofshalle, studierten den Fahrplan und die Liste möglicher Reiseziele. Die Vorstellung, noch mehr Zeit in einem Eisenbahnwaggon verbringen zu müssen, behagte uns überhaupt nicht, doch uns blieb keine andere Wahl. In Russland konnten wir nicht bleiben. Dort waren wir unseres Lebens nicht mehr sicher.
    »Wo sollen wir hinfahren?«, fragte mich Anastasia, als wir uns die Liste der Städte anschauten, die wir auf dem Schienenweg erreichen konnten. Rom, Madrid, Wien, Genf. Vielleicht Kopenhagen? War nicht einer ihrer Vettern König von Dänemark?
    »Wo immer du hinwillst, Anastasia«, erwiderte ich. »Wo immer du dich in Sicherheit fühlst.«
    Sie zeigte auf eine der Städte, und ich nickte, angetan von ihrer Wahl, denn allein der Name dieses Ortes weckte in mir romantische Gefühle. »Also dann,
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