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Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Titel: Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
Autoren: John Boyne
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starrte ihn kühl an, als wäre ihr noch nie eine größere Unverschämtheit geboten worden.
    »Madame, können Sie mir bestätigen, dass Sie in Gesellschaft dieses Herrn hier reisen?«
    »Natürlich reist sie in meiner Gesellschaft, Sie Idiot!«, blaffte ich ihn an. »Säßen wir sonst zusammen in diesem Abteil? Hätte ich sonst beide Fahrkarten in meiner Tasche?«
    »Mein Herr, die junge Dame macht einen bekümmerten Eindruck«, erwiderte er. »Ich möchte sichergehen, dass sie nicht unter Zwang in dieses Abteil gebracht worden ist.«
    »Unter Zwang?«, fragte ich und lachte ihm ins Gesicht. »Sind Sie noch ganz bei Trost, Mann? Sie ist einfach müde, das ist alles. Wir sind schon seit Tagen unterwegs und …«
    Bevor ich den Satz vollenden konnte, hatte Anastasia eine Hand nach mir ausgestreckt und sie mir auf den Arm gelegt. Ich schaute sie überrascht an und verfolgte, wie sie ihre Hand wieder wegnahm und, nun nicht mehr zitternd, dem Schaffner einen trotzigen Blick zuwarf. Als ich mich nach ihm umdrehte, konnte ich erkennen, wie ihn zwei Dinge aus der Fassung brachten: die Selbstsicherheit, die sie mit einem Mal an den Tag legte, und ihre würdevolle Schönheit.
    »Ich bin nicht entführt worden, falls es das ist, worauf sie hinauswollen«, sagte sie, wobei ihre Stimme beim Sprechen ein wenig krächzte, was nicht verwunderlich war, wenn man bedachte, wie lange sie nicht davon Gebrauch gemacht hatte.
    »Ich bitte um Verzeihung, Madame«, erwiderte er, ein wenig verlegen. »Darauf wollte ich keineswegs hinaus. Aber Sie sahen so aus, als fühlten Sie sich unbehaglich.«
    »Das liegt an diesem unbequemen Zug hier«, sagte sie. »Ich frage mich, warum Ihre Regierung nicht einen Teil ihres Geldes in technische Verbesserungen investiert. Die hat doch genug Geld, oder?«
    Ich hielt den Atem an, denn ich war mir nicht sicher, ob es klug war, sich so zu äußern. Schließlich kannten wir diesen Mann nicht. Wir wussten nicht, wessen Befehlen er Folge leistete, wem seine Loyalität gehörte. Anastasia, die es gewohnt war, keinem Mann außer ihrem Vater Rede und Antwort stehen zu müssen, hatte dank der Impertinenz des Schaffners eindeutig ihre innere Kraft wiedergewonnen. Im Abteil herrschte eine Zeit lang betretenes Schweigen – ich fragte mich, ob er uns noch weiter behelligen würde, und hatte Sorge, dass wir in diesem Fall wirklich in die Bredouille geraten könnten –, doch schließlich gab er mir die Fahrkarten zurück und sah weg.
    »Falls Sie Hunger haben, am Ende des Zuges befindet sich ein Speisewagen«, sagte er schroff. »Unser nächster Halt ist Nischni Nowgorod. Ich wünsche Ihnen eine angenehme Reise.«
    Daraufhin nickte ich, und er warf einen letzten Blick auf uns – Anastasia sah ihn noch immer herausfordernd an –, bevor er sich wegdrehte, die Abteiltür schloss und uns allein ließ. Mir entfuhr ein gewaltiger Seufzer, wobei meine Brust nach der Anspannung der letzten Minuten förmlich in sich zusammensackte, und dann schaute ich zu Anastasia hinüber, die mich schwach anlächelte.
    »Du hast deine Stimme wiedergefunden«, sagte ich.
    Sie nickte leicht. »Georgi«, flüsterte sie verzagt.
    Ich griff mir ihre Hand.
    »Du musst es mir erzählen«, beharrte ich, jedoch ohne sie zu bedrängen, sondern in einem freundlichen, einfühlsamen Tonfall. »Du musst mir erzählen, was geschehen ist.«
    »Ja«, sagte sie. »Ich werde es dir erzählen. Dir und niemandem sonst. Aber zuerst musst du mir etwas sagen.«
    »Was immer du willst.«
    »Liebst du mich?«
    »Aber natürlich!«
    »Du wirst mich nie verlassen?«
    »Nur der Tod könnte uns beide trennen, mein Liebling.«
    Ihre Miene erstarrte, und ich wusste sofort, dass ich mich in der Wahl meiner Worte vergriffen hatte. Ich nahm ihre Hände fest in die meinen und bestürmte sie erneut, mir alles zu erzählen. Mir zu erzählen, was sich in jener Nacht im Ipatjew-Haus zugetragen hatte.
    Die Wachen behandelten uns nicht wie Gefangene. Tatsächlich ließen sie uns nach Belieben auf dem Grundstück umherwandern, ja sie erlaubten uns sogar lange Spaziergänge durch die umliegende Landschaft, unter der Bedingung, dass wir hinterher wieder zum Haus zurückkehrten. Natürlich gehorchten wir ihnen. Wo hätten wir denn auch hingehen können? Wir hätten uns nirgends verstecken können, in keinem Dorf und in keiner Stadt in ganz Russland. Sie sagten, in Jekaterinburg seien wir sicher, dass sie uns beschützten, dass sie unseren Aufenthaltsort geheim hielten, da es in
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