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Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Titel: Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
Autoren: John Boyne
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Rubel, die ich am vorangegangenen Nachmittag gefunden hatte, und beschloss unbekümmert, praktisch doppelt so viel auszugeben, wie eigentlich nötig gewesen wäre, um uns an Bord des Zuges ein Privatabteil zu beschaffen. Ich kaufte zwei Fahrkarten nach Minsk, eine Reise von gut eintausendsechshundert Kilometern. Ein anderes Ziel fiel mir nicht ein. Und ich hatte keine Ahnung, wohin es von dort aus weitergehen sollte.
    Es gibt merkwürdige Glücksmomente im Leben, unverhoffte Freuden, und ein solcher Augenblick ergab sich, als wir aus dem Bahnhof fuhren. Der Zugabfertiger ließ seine schrille Pfeife ertönen, die letzten Passagiere wurden lautstark aufgefordert, unverzüglich einzusteigen, und dann begann der Dampf aufzusteigen, als das Triebwerk der Lokomotive ruckartig in Gang kam. Kurz darauf erhöhte der Zug seine Geschwindigkeit, bis er ein ordentliches Tempo erreicht hatte, und als er so gen Westen ratterte, schaute ich zu Anastasia hinüber, auf deren Gesicht mit einem Mal Erleichterung stand. Ich beugte mich zu ihr und nahm ihre Hand. Sie schien von dieser unerwarteten Vertraulichkeit überrascht, als hätte sie vergessen, dass wir gemeinsam den Zug bestiegen hatten, doch dann sah sie mich an und lächelte. Dieses Lächeln hatte ich seit achtzehn Monaten nicht mehr gesehen, und ich erwiderte es dankbar. Es weckte in mir die Hoffnung, dass sie schon bald wieder ganz die Alte sein würde.
    »Frierst du, mein Liebling?«, fragte ich, wobei ich nach oben griff und eine dünne Wolldecke von der Hutablage zog. »Die kannst du dir gegen die Kälte über die Beine legen.«
    Sie nahm die Decke dankbar entgegen und drehte dann den Kopf zur Seite, um durch das Fenster die an uns vorüberziehende triste Landschaft zu betrachten. Die Felder. Die Ernte. Die Muschiks. Die Revolutionäre. Einen Moment später wandte sie sich mir wieder zu, und ich hielt voller Erwartung den Atem an. Ihre Lippen öffneten sich. Sie schluckte heftig und öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Ich sah, wie der Kehlkopf in ihrem blassen Hals leicht zu zucken begann, als der vom Gehirn entsandte Sprechimpuls ihre Zunge erreichte, doch genau in dem Moment, wo sie sich anschickte, zum ersten Mal ein paar Worte zu artikulieren, wurde die Tür zu unserem Abteil so abrupt aufgerissen, dass ich erschrocken herumfuhr – doch zu meiner großen Erleichterung war es nur der Schaffner.
    »Ihre Fahrkarten, bitte«, sagte er, und bevor ich danach griff, sah ich zu Anastasia hinüber, die sich von mir und dem Schaffner abgewandt hatte. Sie schaute wieder zum Fenster hinaus, hielt den Kragen meines Mantels vor ihrem Kinn umklammert und zitterte. Ich streckte die Hand nach ihr aus, unsicher, wo ich sie berühren sollte.
    »Duscha«, flüsterte ich, bevor wir unterbrochen wurden.
    »Ihre Fahrkarten, bitte«, wiederholte der Schaffner, diesmal etwas nachdrücklicher. Ich drehte mich um und funkelte ihn an, mit einem dermaßen wütenden Gesichtsausdruck, dass er einen halben Schritt zurückwich und mich nervös anschaute. Er öffnete den Mund, um noch etwas zu sagen, doch dann überlegte er es sich anders und sah schweigend zu, wie ich die Fahrkarten langsam aus meiner Tasche zog.
    »Sie fahren nach Minsk?«, fragte er, nachdem ich sie ihm überreicht und er sie eingehend gemustert hatte.
    »Richtig.«
    »Dann müssen Sie in Moskau umsteigen«, erwiderte er. »Das letzte Stück der Reise werden Sie in einem anderen Zug zurücklegen.«
    »Ja, ich weiß«, sagte ich, denn ich wollte, dass er uns endlich allein ließ. Ich hatte ihn jedoch offenbar nicht so stark eingeschüchtert, wie ich dachte, denn anstatt mir die Fahrkarten zurückzugeben und uns in Ruhe zu lassen, behielt er sie als Faustpfand für die Befriedigung seiner Neugier in der Hand und musterte Anastasia.
    »Ist alles in Ordnung mit ihr?«, fragte er einen Augenblick später.
    »Ja, es geht ihr gut.«
    »Sie wirkt irgendwie bekümmert.«
    »Ihr geht es gut«, wiederholte ich, ohne zu zögern. »Bekomme ich jetzt meine Fahrkarten zurück?«
    »Madame?«, sagte er, als hätte er meine Frage nicht gehört. »Madame, reisen Sie in Gesellschaft dieses Herrn hier?« Anastasia reagierte nicht, sondern schaute weiter zum Fenster hinaus und weigerte sich, die Anwesenheit des Schaffners überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. »Madame«, fuhr er fort, in einem barscheren Tonfall. »Madame, ich habe Ihnen eine Frage gestellt.«
    Es folgte eine mir endlos vorkommende Pause, und dann drehte sich Anastasia zu ihm um und
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