Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
lagen, nicht sehen konnte, befürchtete ich, sie könnte plötzlich wieder zur Besinnung kommen und uns verraten, und ich wünschte mir, ich hätte eine Waffe dabei.
Drei Bolschewiki traten durch die hohen roten Türen an der Vorderseite des Hauses ins Freie, zündeten sich ihre Zigaretten an und unterhielten sich mit leiser Stimme. Ich sah jede Menge Streichhölzer aufblitzen und fragte mich, ob die Männer zu nervös waren oder ob der Wind die Flammen immer zu früh erlöschen ließ. Ich war zu weit entfernt, um ihrer Unterhaltung folgen zu können, doch nach einer Weile ließ einer von ihnen, der größte der drei, einen verärgerten Schrei ertönen, und ich hörte, wie die folgenden Worte die nächtliche Stille unterbrachen:
Aber wenn rauskommt, dass sie …
Das war alles. Fünf einfache Wörter, die mich mein Leben lang begleitet haben.
Ich kniff die Augen zusammen, um die Mienen dieser Männer zu entschlüsseln, und versuchte vergeblich herauszufinden, ob sie vergnügt, aufgeregt, nervös, zerknirscht, schockiert oder mordlustig waren. Ich sah hinab auf Anastasia, die mich noch immer so fest umklammert hielt, dass es mir wehtat; sie schaute im selben Moment zu mir herauf, und als sich unsere Blicke trafen, huschte ein solches Grauen über ihr Gesicht, dass ich befürchtete, sie habe angesichts dessen, was sich in jenem verfluchten Haus zugetragen hat, den Verstand verloren. Als sie den Mund öffnete und tief Luft holte, befürchtete ich, sie würde schreien und so die Soldaten auf uns aufmerksam machen. Schnell legte ich ihr meine Hand auf den Mund, wie ich es zwei Nächte zuvor bei ihrer älteren Schwester getan hatte. Jede Faser meines Wesens begehrte gegen diese entwürdigende Behandlung auf, doch ich ließ meine Hand dort, bis ich schließlich spürte, wie ihr Körper erschlaffte und sich ihre Augen von mir abwandten, als hätte sie den Willen verloren, noch länger zu kämpfen.
»Vergib mir, mein Liebling«, flüsterte ich ihr ins Ohr. »Vergib mir, dass ich so grob zu dir bin. Hab keine Angst, bitte! Sie sind da drüben, aber ich werde dich beschützen. Ich werde auf dich aufpassen. Du musst still sein, Liebste. Sie dürfen uns nicht entdecken. Wir müssen hier warten, bis sie wieder ins Haus gegangen sind.«
Der Mond kam hinter einer Wolke hervor und tauchte Anastasias Gesicht für einen Augenblick in einen bleichen Schimmer. Sie wirkte nun beinahe gelassen, ruhig und heiter, so wie ich es mir in meiner Fantasie immer ausgemalt hatte, wenn ich mir vorgestellt hatte, wie sie in der Stille der Nacht zu mir aufs Zimmer kam. Wie oft hatte ich geträumt, dass ich mich im Bett umdrehen und sie neben mir vorfinden würde, dass ich mich aufsetzen und sie betrachten würde, während sie schlief – das schönste Wesen, das mir in meinen neunzehn Lebensjahren begegnet war! Wie oft war ich in Schweiß gebadet aufgewacht und hatte mich geschämt, während ihr Bild aus meinen Träumen verschwand! Doch ihre Heiterkeit stand in einem solchen Gegensatz zu unserer Situation, dass mir angst und bange wurde. Es schien, als hätte sie wirklich den Verstand verloren. Ich hatte solche Angst, dass sie jeden Moment schreien oder kreischen oder lachen oder durch den Wald laufen und sich dabei die Kleider vom Leib reißen könnte, wäre ich so töricht, sie loszulassen.
Und so drückte ich sie fest an mich, und jung wie ich war, taktlos wie ich war, wollüstig wie ich war, kam ich nicht umhin, das Gefühl ihres so eng an mich gepressten Körpers zu genießen. Jetzt könnte ich sie haben, schoss es mir durch den Kopf, und ich verabscheute mich wegen dieser abartigen Anwandlung. Ich war von mir selber angewidert. Aber trotzdem ließ ich sie nicht los.
Ich spähte durch die Bäume und wartete darauf, dass die Soldaten verschwanden.
Und ich ließ sie noch immer nicht los.
Das Einzige, was ich mit Sicherheit wusste, war, dass wir schleunigst verschwinden mussten. Was als ein romantisches Stelldichein von zwei jungen Liebenden geplant gewesen war, hatte eine völlig andere Wendung genommen, und wenn meine Angst weniger offenkundig war als ihre, so war sie dennoch real. Ich hatte erwartet, Anastasia würde mir freudig erregt um den Hals fallen – dasselbe warme, ausgelassene, liebevolle Geschöpf, in das ich mich in einem mondänen Milieu verliebt hatte. Ich hatte erwartet, dass ihr strahlender Glanz kaum gemindert sein würde durch die Zeit, die sie in Jekaterinburg hatte verbringen müssen. Stattdessen war sie nun stumm vor
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