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Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Titel: Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
Autoren: John Boyne
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würden uns auf den Fersen sein – würden ihr auf den Fersen sein. Und falls sie uns schnappten … Undenkbar! Ich beschleunigte unser Tempo.
    Zu meiner Überraschung hielt Anastasia mühelos mit. Tatsächlich ließ sie mich zuweilen sogar hinter sich, als legte sie, trotz ihres Schweigens, noch mehr Wert darauf als ich, dass wir einen möglichst großen Abstand zu ihrem ehemaligen Gefängnis gewannen. Ihr Durchhaltevermögen in jener Nacht war geradezu übermenschlich: Hätte ich ihr vorgeschlagen, den ganzen Weg bis nach St. Petersburg zu laufen, so hätte sie vermutlich eingewilligt und unterwegs kein einziges Mal rasten wollen.
    Doch nach zwei oder drei Stunden merkte ich, dass eine Pause unumgänglich war. Mein Körper rebellierte bei jedem Schritt. Wir hatten noch einen weiten Weg vor uns und mussten uns unsere Kräfte gut einteilen. Die Sonne würde bald aufgehen, und ich wollte mich bei Tagesanbruch nicht auf freiem Gelände befinden, doch nichts deutete darauf hin, dass wir verfolgt wurden. Etwa einen knappen Kilometer vor uns konnte ich einen kleinen Viehstall erkennen, und ich beschloss, dort ein paar Stunden zu rasten.
    Drinnen stank es bestialisch, doch der Stall war leer. Die Wände machten einen soliden Eindruck, und auf dem Boden lag genug Stroh, um sich halbwegs komfortabel ausruhen zu können.
    »Hier werden wir ein wenig schlafen, Liebste«, sagte ich. Anastasia nickte und legte sich anstandslos hin, um dann die Decke anzustarren, noch immer mit diesem gehetzten, leeren Blick. »Du musst nichts sagen«, fügte ich hinzu, wobei ich den Sachverhalt ignorierte, dass sie bis dahin nur ein einziges Wort gesagt hatte, meinen Vornamen, und dass sie nicht die geringsten Anstalten machte, mir zu erzählen, was geschehen war. »Noch nicht. Sieh zu, dass du ein bisschen Schlaf bekommst. Du wirst es brauchen.«
    Wieder das kurze Nicken, doch diesmal spürte ich, wie sich ihre Finger etwas fester um die meinen legten, als wollte sie mir signalisieren, dass sie mich verstanden hatte. Ich legte mich neben sie, und als ich mich an sie schmiegte, um ihr Wärme zu spenden, merkte ich, dass ich binnen Sekunden einschlafen würde. Ich versuchte, wach zu bleiben, um auf sie aufzupassen, doch sie dabei zu beobachten, wie sie die Decke unseres Stalls anstarrte, hypnotisierte mich dermaßen, dass ich im Nu von der Müdigkeit übermannt wurde.
    Es dauerte drei Tage, bis Anastasia wieder zu sprechen begann.
    Am nächsten Morgen bot sich uns eine Mitfahrgelegenheit, ein Fuhrwerk, das in Richtung Ischewsk unterwegs war. Die Fahrt dauerte einen ganzen Tag, doch der Bauer verlangte für diese Gefälligkeit nur ein paar Kopeken und bot uns unterwegs Brot und Wasser an, was wir dankbar annahmen, denn wir hatten beide seit dem vergangenen Nachmittag nichts mehr gegessen. Wir schliefen unruhig, im hinteren Bereich des Vehikels, flach ausgestreckt auf den Holzplanken. Jede Unebenheit der Straße ließ uns aus dem Schlaf aufschrecken, und ich betete, dass diese Folter bald ein Ende haben möge. Jedes Mal, wenn Anastasia aufwachte, bemerkte ich, dass sie einen Moment brauchte, um sich wieder daran zu erinnern, wo sie war und was sie an diesen Ort geführt hatte. Ihre Miene wirkte ein oder zwei Sekunden lang entspannt und völlig unbeschwert, und dann umwölkte sie sich, eine plötzliche Verfinsterung ihres Strahlens, und sie schloss wieder die Augen, als wollte sie, dass der Schlaf – oder etwas Schlimmeres – sie übermannte. Unser Fahrer trieb keine Konversation mit uns und erkannte auch nicht, dass es eine Prinzessin von kaiserlichem Geblüt war, die, Rücken an Rücken, hinter ihm saß. Ich war dankbar für dieses Schweigen, denn angesichts der Situation, in der wir uns befanden, wäre es mir schwer gefallen, Freundlichkeit oder Geselligkeit vorzutäuschen.
    In Ischewsk ließen wir uns absetzen und aßen etwas in einem kleinen Café, bevor wir uns zum Bahnhof begaben. Hier herrschte ein regeres Treiben, als ich erwartet hatte, ein Sachverhalt, der mir gefiel, denn so konnten wir problemlos in der Menge untertauchen. Ich hatte befürchtet, an den Eingängen könnten Soldaten postiert sein, die nach uns Ausschau hielten, die nach ihr Ausschau hielten, doch dies schien nicht der Fall zu sein. Anastasia hielt den Kopf gesenkt und den Blick auf den Boden gerichtet. Ihr Haar steckte unter einer dunklen Kapuze, sodass sie wie eine der Bauerntöchter aussah, die an uns vorüberhasteten. Ich verfügte noch immer über die Mehrzahl der
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