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Das Haus der verlorenen Kinder

Titel: Das Haus der verlorenen Kinder
Autoren: Serena Mackesy
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spürt, wie sein Herzschlag kurz aussetzt. Und dann sinkt er, taucht immer tiefer, und sein Fuß trifft auf etwas, knickt um, und er spürt, dass sein Knöchel bricht. Er schreit unter Wasser auf, ihm geht die Luft aus, er will einatmen, droht zu ersticken, dann strampelt er, um sich an die Oberfläche zu kämpfen, ihm ist heiß und kalt, und alles verschwimmt ihm rot vor den Augen.
    Er taucht auf. Japst nach Luft, hustet, streckt die Arme aus, um sein Körpergewicht zu verteilen. Sein Knöchel fühlt sich an, als wäre er in einem Schraubstock zerquetscht worden, und er hat unterhalb des Knies keine Kraft im Bein. Meine Stiefel, denkt er. Meine Stiefel werden mich in die Tiefe ziehen. O Gott, es ist so kalt, dermaßen kalt. Ich muss hier raus, muss raus, mein Gott, diese Kälte bringt mich noch um.
    Seine Haut brennt. Sie fühlt sich an, als ätze Säure sie weg, als steche ihn jemand mit glühenden Nadeln. Er nimmt einen langen, tiefen Atemzug, macht ein paar Schwimmzüge in Richtung der Treppe, und sein verletzter Fuß schmerzt bei jeder Bewegung wie der Teufel. Das Dock befindet sich gut anderthalb Meter über ihm. Seit das Haus erbaut wurde, muss der Wasserspiegel im Laufe der Jahre gesunken sein.
    Seine Hand trifft auf Holz, und noch bevor er es ausprobiert, weiß er aufgrund der schwammigen Beschaffenheit, aufgrund der Art und Weise, wie es unter seinem Griff nachgibt, dass es sein Gewicht niemals tragen wird.
    Er versucht es trotzdem. Zieht sich ein, zwei Handlängen die Schräge hoch, bevor das Holz zwischen seinen Fingern und der Handfläche zerbröselt, und er wieder ins Wasser zurückfällt. Er versucht es erneut. Dieses Mal bricht ein größeres Stück ab, und er wird waagrecht nach hinten geschleudert, sodass sein Kopf mit Wucht gegen die Wand prallt.
    Das ist mein Mantel, denkt er. Mein Mantel und meine Stiefel. Die machen mich schwerer. Ich muss sie loswerden.
    Er stützt sich gegen die Wand, während er sich aus seinem Mantel kämpft. Hebt sein gesundes Bein und zieht mit tauben Fingern an den Schnürsenkeln. Ich schaffe es nicht. Ich schaffe es nicht. Bekomme sie nicht richtig zu fassen.
    »Hallo?«, ruft er.
    Keine Antwort.
    »Hallo? Kannst du mich hören?«
    Keine Reaktion.
    Kieran schwimmt zurück, um sich an dem verfaulten Stützpfeiler der Treppe festzuhalten. Klammert sich daran wie ein Kind an eine Wärmflasche. Die Kälte setzt ihm jetzt immer stärker zu, er zittert inzwischen am ganzen Körper.
    »Hallo?«, ruft er wieder. »Ich bin hier unten in Schwierigkeiten. Du musst mir helfen.«
    In der Düsterheit beugt sich eine kleine Gestalt – die sich undeutlich, fahl gegen die Dunkelheit abhebt – über das Loch in der Decke. Sie sagt nichts.
    »Schau«, fährt er fort, hält inne, um Atem zu schöpfen, hustet und spuckt ins Wasser. »Es tut mir leid, wenn ich dir Angst gemacht habe. Aber du musst mir helfen. Ich komme hier nicht raus. Die Treppe und die Wände sind verfault, und ich glaube, ich habe mir den Knöchel gebrochen. Mir wird es wirklich ganz schnell schlecht gehen, wenn du mir nicht hilfst.«
    Sie rührt sich nicht. Er ertastet die Taschenlampe in seiner Tasche – Gott sei Dank sind die heutzutage wasserdicht –, schaltet sie ein und richtet den Strahl auf ihr Gesicht. Sie grinst. Durchdringende schwarze Augen und hervorstehende Wangenknochen. Ich weiß nicht, was sie da anhat, aber es sieht aus, als wäre das aus Satin oder Ähnlichem genäht. Es ist ihr zu groß. Das passt alles nicht zusammen.
    »Ich bitte dich bloß – du brauchst nicht hier herunterzukommen. Ich bitte dich bloß, dass du gehst und Hilfe holst.«
    Lily legt den Kopf zur Seite. Runzelt die Stirn, als sei sie verwirrt.
    »G-g-g-geh und h-h-h-hol jemanden«, stottert er, »aus dem Haus. Sag ihnen, dass da jemand im Bootshaus ist. Sag ihnen, dass sie ein Seil mitbringen sollen. Sag ihnen, dass sie die Polizei rufen sollen. Bitte. Ich brauche deine Hilfe.«
    Wieder zeigt sie das Lächeln. Lily hockt sich auf die Fersen, schüttelt ihre zerzausten Haare.
    »Ich … ich sterbe«, sagt er, »wenn du mir nicht hilfst.«
    Sie stößt ein lautes Lachen aus. Öffnet den Mund so weit, dass er sehen kann, wo ihr die Backenzähne fehlen.
    »Mir ist kalt«, sagt Lily. Und verschwindet.
    Er will losschreien. Das spielt sich nur in meinem Kopf ab.
    Ich halluziniere bereits.
    »Hallo?«, ruft er.
    Schweigen. Nur das Rauschen des Windes in den Dachvorsprüngen.
    Er spürt, wie sein Herzschlag langsamer wird. Wo ist sie nur?
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