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Das Haus der verlorenen Kinder

Titel: Das Haus der verlorenen Kinder
Autoren: Serena Mackesy
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Gesicht zwar verdeckt, die Absicht aber eindeutig. Er war hier im Zimmer bei mir, bei uns – und trotzdem haben wir die Nacht überlebt.
    Ihr Mund ist trocken, ihr Hals schmerzt. Ihr Rücken, die Knie und die Hüften tun ihr vor Anspannung und Verkrampfung weh. Und dennoch, sie ist noch am Leben.
    »Es ist in Ordnung, Mummy«, wiederholt Yasmin. »Komm schon.«
    Sie streckt die Hand aus.
    »Ich habe geträumt …«, sagt Bridget, »ich habe geträumt, dass er gekommen ist.«
    »Ich weiß«, antwortet Yasmin. »Aber er kommt nicht. Es ist in Ordnung. Lily hat dem ein Ende gemacht.« Sie weiß das mit einer solchen Gewissheit, die sie selbst nicht begreift. Weiß einfach, dass sie es weiß, und dass ihr Vater sie nie mehr bedrohen wird.
    Bridget schaut sie mit gerunzelter Stirn an. Sie sieht seltsamerweise älter aus – nicht älter, nur erwachsener, weiser, heiter, als habe sie in der Dunkelheit wichtige Geheimnisse erfahren. »Es ist in Ordnung, Mummy. Es ist vorbei. Er wird nicht wiederkommen.«
    Bridget befreit sich von den Decken und kriecht über den Teppich. Duckt sich unter dem Vorhang durch und schaut durch das Fenster auf die friedliche Schneelandschaft, die aufgehende Sonne. Irgendetwas ist passiert, denkt sie. Irgendetwas hat sich verändert. Habe ich es nur geträumt? Habe ich mir lediglich eingebildet, dass er da war?
    »Die Lichter sind wieder an«, verkündet Yasmin.
    Sie wirft einen Blick ins Zimmer und sieht, dass die Nachttischlampe, die sie gestern Abend angelassen hat, als sie ins Bad ging, im Morgenlicht schwach leuchtet.
    Das Handy ist, als sie es von sich schleuderte, an der Wandverkleidung zu ihren Füßen gelandet. Das hintere Gehäuse ist abgefallen, und die Batterie liegt auf dem Teppich. Wahrscheinlich habe ich es kaputt gemacht, denkt Bridget. Hoffentlich habe ich es nicht kaputt gemacht. Sie bückt sich und hebt die Teile auf. Macht sich daran, sie wieder zusammenzusetzen.
    »Komm schon«, sagt Yasmin. »Lass uns frühstücken.«
    »Nein«, antwortet Bridget. »Nein, ich muss zuerst sehen, ob das Telefon funktioniert. Ich rufe die Polizei. Die sollen kommen. Und nachschauen.«
    Sie drückt auf den Knopf, wartet, um zu sehen, ob es reagiert.
    »Ich hab es dir gesagt, Mummy«, beharrt Yasmin. »Es ist in Ordnung. Ich weiß, dass alles in Ordnung ist.«
    Aber es ist nicht in Ordnung, oder? Selbst wenn er verschwunden ist, selbst wenn er nie mehr wiederkommt, er hat Carol etwas angetan, und nichts wird je wieder sein, wie es einmal war.
    Yasmin setzt sich auf das Bett, die Hände zwischen den Knien, und wartet geduldig. Bridget blickt sie ein paar Sekunden an, wird sich der Gelassenheit bewusst, der Selbstbeherrschung, des wunderbaren Strahlens ihres Lächelns. Sie schaut wieder auf das Handydisplay. Fünf Balken. An der Stelle, wo gestern Abend kein einziger Balken zu sehen war, sind jetzt fünf. Sie tippt 110 und drückt auf »Verbinden«.
    Yasmin schiebt sich zurück, bis sie mit dem Rücken an der Wand lehnt. Greift nach einem Kissen und schlingt die Arme darum.
    »Sie ist weg«, sagt sie.
    Bridget, die darauf wartet, dass die Verbindung zur Not-rufzentrale hergestellt, dass ihr die Auswahl, verschiedene Tasten zu drücken, genannt wird, ist abgelenkt und hört nur mit halbem Ohr hin. »Wer ist weg, Baby?«
    »Lily«, sagt Yasmin. Legt sich hin und starrt ins Zimmer. »Lily ist weg.«

Nachwort
    Er ist so schwer, dass er die Luft aus ihr herauspresst, als er auf ihr landet, sie mit seinem leblosen Gewicht festnagelt, ihre nackten Schultern auf die rauen Bodendielen drückt. Sie kämpft, schnappt nach Luft: In Panik verdreht sie die weit aufgerissenen Augen, als ihr klar wird, dass sie in der Falle sitzt.
    Er schnarcht. Die feuchte Luft, die er durch die Nase ausstößt, trifft sie am Halsansatz. Feucht, klebrig, widerlich.
    Ich muss hier raus, denkt sie. Hier raus, bevor er aufwacht. Er wird es mir heimzahlen, sobald ihm klar wird, was ich getan habe. Diese Hände – ich werde sie mir jetzt, da er wütend sein wird, niemals vom Leib halten können.
    Sie spürt, wie er der Länge nach auf ihr liegt, durch die Bewusstlosigkeit noch schwerer ist. Ihm läuft die Nase, und ein Sabberfaden tropft ihm aus dem Mund und in ihre Haare.
    Sie spürt, dass sich in ihrem Kopf Tiergeräusche bilden. Kann sie nicht herauslassen. Es ist unmöglich. Sie werden ihn aufwecken, ihn ins Bewusstsein holen, und er wird weitermachen. Weiter …
    Lily bäumt sich auf. Er schwankt wie eine Vogelscheuche auf ihr,
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