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Das Haus der verlorenen Kinder

Titel: Das Haus der verlorenen Kinder
Autoren: Serena Mackesy
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hinein.
    Und jetzt ist er wütend. Rappelt sich auf die Füße und rennt und stolpert in die Richtung, die seine Tochter eingeschlagen hat. Na schön! Wenn du es so willst. Ich werde dich einfach packen, verflucht. Dich packen und mitnehmen, und du wirst schon sehen, was passiert, wenn du dich zur Wehr setzt, du kleine Schlampe. Du bist meine Tochter, verdammt. Du wirst tun, was ich dir sage, ob es dir gefällt oder nicht.
    Der Schnee wird immer tiefer, je näher er dem Gebäude kommt; die Verwehungen sind hier sechzig bis neunzig Zentimeter hoch. Er ist zu wütend, um stehen zu bleiben, um zu bemerken und sich zu wundern, warum es denn gar keine Spuren gibt und überhaupt nicht zu sehen ist, dass sie hier entlanggegangen ist: Er stapft einfach mit den Armen fuchtelnd weiter auf die Tür zu. Die ist natürlich geschlossen. Sie denkt wohl, sie kann mich einfach aussperren. Denkt, sie braucht die Tür bloß abzuschließen, und das würde mich abhalten.
    Er richtet sich auf, findet sein Gleichgewicht, tritt gegen die Tür. Wieder verwittertes Holz. Die Schrauben, die das Vorhängeschloss von außen halten, lösen sich aus dem Pfosten. Die Tür schlägt dumpf zurück, prallt ab und bleibt schließlich liegen.
    Kieran schaltet die Taschenlampe an, tritt ein.
    Es ist ein Bootshaus. In dem es nach Fäulnis und Schimmel riecht, wie das bei feuchten Räumen eben üblich ist. Er schwenkt mit der Taschenlampe über raue Holzwände, über Anlegepfosten und kaputte Holzstufen, die in schmutzigschwarzes Wasser hinab ins Nichts führen. Es ist nicht gefroren, wie er bemerkt. Man hätte annehmen können, dass es gefroren wäre.
    Da ist ein Boot, schon lange durchlöchert und gesunken, das jetzt mit dem Kiel nach oben auf dem Dock liegt, und ein Stück Tau ist um den Pfosten gewickelt, aber ansonsten ist das Gebäude leer. Es ist gründlich leer geräumt worden: keine Farbtöpfe, keine alten Polster, keine aufgestellten Ruder oder verschimmelten Sonnenschirme, die man hier sonst erwarten würde. Das Bootshaus ist nicht einfach nur verlassen worden: Es wurde richtig ausgeräumt. In einem Gewirr von Spinnennetzen über seinem Kopf hängen schwarze Staubknäuel.
    Aus der Dunkelheit des oberen Stockwerks ist ein Kichern zu vernehmen.
    Klar. So hast du dir das Spiel gedacht.
    Er duckt sich unter dem Türsturz und tritt vorsichtig auf das Betondock. Drückt sich am Rand entlang bis zu der unbehandelten Holztreppe, die von der hinteren Ecke nach oben führt. Er steht am Fuß der Treppe, ruft hinauf.
    »Yasmin! Du kannst genauso gut runterkommen. Ich weiß, dass du da oben bist.«
    Schweigen.
    Er stützt sich mit der Hand an der Wand ab und reckt den Kopf, um sie zu sehen.
    »Wart nur ab, was passiert, wenn ich raufkommen und dich holen muss«, droht er.
    Wieder lacht sie. Es ist kein nettes Lachen. Es ist spöttisch, verächtlich. Er spürt erneut die Hitze in seinen Adern. Nimmt die Taschenlampe und steigt die Treppe hinauf. Ich kriege dich, und dann werde ich …
    Sie hockt in der Ecke. Er sieht sie sofort, weil auch dieser Raum wie der darunter völlig leer geräumt ist. Sie sitzt mit dem Rücken zur Wand, die Knie unter ihrem weiten weißen Kleid bis zur Brust hochgezogen. Ihr Kopf ist geneigt, einzelne längere Haarbüschel hängen ihr auf die Knie. Ihre Füße, die unter dem Saum ihres Kleids hervorlugen, sind nackt.
    »Komm schon«, sagt er. Versucht, ruhig und überzeugend zu klingen. Macht sich daran, auf sie zuzugehen. Hier ist der Geruch von Moder und Fäulnis noch stärker, weil die Luft nirgends abziehen kann. Die Holzdielen fühlen sich unter seinen Stiefeln schwammig an, sie geben unter seinem Gewicht ein wenig nach. »Dir muss doch eiskalt sein.«
    Das Kind richtet sich plötzlich aggressiv auf. Ihr Gesicht ist gelb, die Zähne schwarz, einige sind nur noch Zahnstümpfe, ihre Augen funkeln wütend und hasserfüllt. Das ist nicht Yasmin. Das ist kein normales Kind. Das ist etwas anderes. Etwas längst Verlorenes, schwarz und wütend.
    »Ich gehe nicht zurück«, sagt sie und lächelt, aber das Lächeln hat nichts Fröhliches.
    Er ist entsetzt. Weicht erschrocken zurück. Spürt, dass der Boden unter ihm nachgibt und einbricht. Er hält sich einen Augenblick über dem Loch, greift verzweifelt ins Nichts, dann fällt er krachend in das Wasser darunter.

58
    Der Schock des Aufpralls ist wie der Tod der tausend Messer. Die Oberfläche ist doch mit einer dünnen Eisschicht überzogen, und das Wasser darunter ist so kalt, dass er
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