Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Haus der verlorenen Kinder

Titel: Das Haus der verlorenen Kinder
Autoren: Serena Mackesy
Vom Netzwerk:
ihren Lungen, als sie oben ankommt. Kämpft sich den Flur entlang, reißt die Tür zum Zimmer ihrer Tochter auf. »Schätzchen! Yasmin! O Gott, schnell!«
    Sie tastet sich zum Bett vor, stolpert über einen herumliegenden Schuh und verliert beinahe das Gleichgewicht. Komm schon, komm schon, komm, los. Yasmin ruft in die Dunkelheit: »Wer ist da? Wer ist da?«
    Sie reißt sich zusammen, zwingt sich, ruhig zu bleiben. Ich darf meine Panik nicht auf sie übertragen. Darf mich von ihrer Angst nicht anstecken lassen.
    »Pst«, sagt sie. »Ich bin’s.«
    »Was ist los?«
    »Schätzchen«, sagt sie, »wir müssen …«
    »Er ist da«, stellt Yasmin fest.
    Sie überlegt kurz, ob sie sie anlügen soll. »Ja«, antwortet sie schließlich. »Wir müssen … schnell. Komm schon. Gib mir die Hand. Wir …«
    Er wird uns entdecken. Wo immer wir uns auch verkriechen, er wird uns finden.
    Ich rufe die Polizei. Wir verbarrikadieren uns hier irgendwo und warten, bis sie kommt. Meine Tasche. Die ist im Schlafzimmer.
    Yasmin schweigt, während sie den Korridor entlanghasten. Sie kann spüren, wie er atmet. Spüren, wie er überlegt. Er wird ums Haus herumschleichen. Den Riss suchen, die Schwachstellen finden. Das Gemäuer ist so alt. Die Fensterrahmen werden nur durch ihren Lack zusammengehalten, jedenfalls einige. Er wird einen solchen entdecken. O Gott, habe ich die andere Tür überprüft? Die am anderen Ende des Hauses? Nachdem die Bensons abgereist waren?
    Ein kalter Schauer läuft ihr über den Rücken. Sie fühlt sich schwach. Ist nicht sicher, ob ihre Beine sie tragen werden.
    Jetzt sind sie im Schlafzimmer, und sie zerrt an der Kommode, zieht sie über den Teppich. »Such das Handy«, sagt sie. »Es ist in meiner Handtasche. Wähl 110.« Die Kommode ist schwer; massives Teakholz, das durch ihre Kleider und Habseligkeiten noch schwerer ist. Hätte ich keine solche Angst, denkt sie, könnte ich die nicht von der Stelle bewegen. Ich bin wie jene Leute, die im Notfall Autos anheben, um ihre Kinder darunter hervorzuziehen. Adrenalin. Das verleiht ungeahnte Kräfte.
    Aber auch Wut löst einen Adrenalinstoß aus. Er wird genauso stark sein.
    Hör auf. Hör auf. Schieb einfach.
    Sie zerrt das Möbelstück quer vor die Tür. Schiebt es direkt ans Holz.
    »Das piepst bloß«, stellt Yasmin fest, deren Gesicht vom Display gespenstisch grün beleuchtet ist.
    Sie lehnt sich gegen die Kommode und streckt die Hand in die Dunkelheit aus. »Gib es her.«
    Da sind keine Balken. Keine Balken. Dieser verdammte Empfang. Ich hätte ja wissen müssen, dass der Schnee ihn noch zusätzlich verschlechtert. Verzweifelt starrt sie auf das Handy. Schleudert es durch das Zimmer.
    Ach, Carol, was ist dir nur zugestoßen? Er hat dir etwas angetan, das weiß ich. Sonst hättest du eine Möglichkeit gefunden, mir eine Nachricht zu schicken, ich weiß, dass du …
    »Ruf sie vom Festnetzanschluss an, Mummy«, sagt Yasmin ganz gelassen.
    Ich kann doch nicht wieder da hinuntergehen. Das kann ich nicht.
    »Ich kann nicht«, sagt sie. »Der Apparat liegt unten in der Eingangshalle. Und wir haben sowieso keinen Strom. Das Telefon wird nicht funktionieren.«
    »Und was machen wir jetzt?«
    Bridget vergräbt das Gesicht in den Händen. »Ich weiß nicht, Baby. Ich weiß nicht.«

57
    Jetzt hat ihn das Jagdfieber gepackt. Er war so nah dran, sie zu erwischen, und doch so fern. Er hat ihre glatten Haare an den Fingerspitzen gespürt, als sie ihm entwischte, und jetzt kocht er vor Wut. Er streift ums Haus, nimmt wie ein jagender Wolf Witterung auf.
    Überall gibt es Spuren von ihnen. Ihr Auto in der Einfahrt: Eine fünfzehn Zentimeter hohe Schneedecke auf dem Dach und auf der Windschutzscheibe, eine Barbie, halb nackt, auf dem Rücksitz. Durch ein Fenster in einem Raum mit einer riesigen Waschmaschine, in dem Bettlaken wie Dschungelmoos von den an der Decke gespannten Leinen hängen, sieht er den alten Wildledermantel seiner Frau und Yasmins Anorak, und ein paar kleine, nie gesehene Gummistiefel stehen neben der Tür. Zwei Paar Wollhandschuhe sind achtlos auf eine Arbeitsplatte gelegt worden. Er spürt, dass ihn ein Anflug von Besitzeranspruch erfasst, weil die Nähe die Sinne verstärkt. Sie gehört mir. Sie gehört mir. Jedenfalls bald.
    Er versucht, die Tür zu öffnen. Sie gibt nicht nach. Das ist okay. Ich werde schon einen Weg finden. Es gibt bestimmt eine Möglichkeit, die sie nicht bedacht hat.
    Auf dieser Seite des Hauses ist der Schnee auf einer großen Fläche
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher