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Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)

Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)

Titel: Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
Autoren: Melisse J. Rose
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Gewürze und Moschus. Moos und Pfeffer mit einem Hauch von Rose. Doch ihre Mutter hatte diesen süßlichen Blütenduft geliebt, also brachte Jac ihn Jahr für Jahr mit in die Kapelle und ließ sich von ihm an all das erinnern, was sie vermisste.
    Draußen verdunkelte sich der Himmel, und ein Unwetter brach los. Jac kauerte sich vor die Urne und lauschte dem Regenschauer, der auf das Dach trommelte und die Scheiben erzittern ließ. Normalerweise wurde sie schnell ungeduldig und beeilte sich, von einem Termin zum nächsten zu kommen. Den Standort zu wechseln. In Bewegung zu bleiben. Sie tat alles, um jede Langeweile zu vermeiden, die zu unerwünschten Grübeleien verführen konnte. Doch hier, in der Grabkapelle, erlaubte sich Jac einmal im Jahr die krankhafte Befriedigung, ihren Ängsten, ihrer Trauer und Enttäuschung nachzugeben. Hier in der Gruft, in diesem traurigen blauen Licht, konnte sie zur Ruhe kommen und hinnehmen, was sie sonst verdrängte. Sie ließ die Visionen zu. Furchtsam zwar, doch ohne sie zu bekämpfen. Nur einmal im Jahr. Nur hier.
    Als kleines Mädchen dachte ich immer, dieses Licht sei eine Brücke, auf der ich von den Lebenden zu den Toten und wieder zurück gehen könnte.
    Jac meinte fast zu spüren, wie ihre Mutter ihr übers Haar strich, wenn sie so in dem sanften Flüsterton sprach, mit dem sie sie früher in den Schlaf geleitet hatte. Sie schloss die Augen. Das Unwetter füllte den Moment des Schweigens, ehe ihre Mutter weitersprach.
    Und das ist es doch für uns zwei, nicht wahr, Liebes? Eine Brücke.
    Jac antwortete nicht. Sie konnte nicht. Sie lauschte auf die nächsten Worte, doch stattdessen war nur das Rauschen desRegens zu hören – und das Ächzen der Scharniere, als die schwere Tür sich öffnete. Ein kalter, feuchter Luftzug fuhr in die Kapelle, und Jac drehte sich um. Sie sah die Silhouette eines Mannes in der Tür und wusste einen Moment lang nicht, ob er real war oder nur einer ihrer Geister.

Drei
     
     
    NANJING, CHINA
    DIENSTAG, 10. MAI, 21:05 UHR
     
    Einen Augenblick lang senkte der Mönch den Kopf wie zum Gebet, dann zündete er ein Streichholz an. Seine Ruhe und Gelassenheit schienen beinahe göttlich, ein Augenblick tiefen inneren Friedens. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich kaum, als er das Streichholz an seine mit Petroleum getränkte Kutte hielt. Flammen in demselben Safranton wie seine Kleidung hüllten ihn ein.
    Xie Ping wandte sich von der Website auf dem Bildschirm ab und sah zu Cali Fong hinüber. Tränen standen ihr in den Augen.
    »Es ist eine Schande«, flüsterte sie mit zitternder Stimme. Mit ihren knapp ein Meter fünfzig konnte man die Dreiundzwanzigjährige leicht für eine Teenagerin halten. Kaum jemand hätte Cali die überbordenden, riesigen Bilder zugetraut, die sie malte – manche waren sieben Meter hoch. Und ihr leidenschaftlicher Einsatz für Menschenrechte und künstlerische Freiheit passte ebenso wenig zu der zierlichen Mädchengestalt. Einen so meinungsstarken Menschen wie sie zur besten Freundin zu haben, war für Xie sicher nicht die klügste Wahl, doch er hatte irgendwann beschlossen, dass es ebenso verdächtig gewesen wäre, sie zu meiden, wie sich mit ihr anzufreunden.
    »Du solltest dich ausloggen«, sagte Xie. »Und weine nicht. Nicht in der Öffentlichkeit.«
    Obwohl viele Studenten und Dozenten über die Unruhen in Tibet diskutierten, konnte es gefährlich werden, wenn gerade er Aufmerksamkeit auf sich zog.
    »Aber das hier ist wichtig, und …«
    »Cali, ich muss jetzt los«, sagte er, bemüht, sie zur Vernunft zu bringen. »Eins meiner Projekte ist fällig, und ich muss so schon die halbe Nacht durcharbeiten. Bitte räum hinter dir auf und lass uns gehen, ja?«
    Jeder neue PC wurde in China mit vorinstallierter Zensursoftware ausgeliefert, die den Zugriff auf die Seiten der BBC, auf Twitter, YouTube, Wikipedia und Blogs verhinderte. Nach der Darstellung der Regierung dienten diese Maßnahmen der Bekämpfung von Pornografie, doch jeder wusste, dass sie dazu gedacht waren, die Öffentlichkeit von Informationen über Demokratiebewegungen, über Tibet oder die verbotene spirituelle Gemeinschaft Falun Gong abzuschneiden. Subversive oder pornografische Websites zu besuchen war ebenso verboten wie jede Anwendung von Techniken, mit denen sich die staatliche Internetzensur umgehen ließ.
    Techniken, mit denen Cali sich bestens auskannte. Während sie ihre Surfspuren beseitigte, schloss Xie die Augen und begab sich auf die Suche nach dem
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