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Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)

Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)

Titel: Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
Autoren: Melisse J. Rose
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Essenz einer Blüte extrahiert. Dann lehrte er sie, diesen wenigen Tropfen ihrer grellsten, blutigsten Angstphantasien mit Hilfe der Mythologie einen Sinn abzugewinnen.
    In einer ihrer schrecklichsten Visionen, die sie immer wieder heimsuchte, war Jac hoch über einem apokalyptischen Stadtszenario in einem brennenden Raum eingesperrt. Zu einer Seite hatte das Zimmer eine Fensterfront. Verzweifelt bemühte sie sich, die Fensterflügel zu öffnen, bevor der Rauch ihr den Atem nahm. Wenn sie nur den Weg ins Freie fand, das wusste sie, konnte sie sich mit den an ihren Rücken geschnallten durchscheinenden Flügeln in Sicherheit bringen.
    Von irgendwo außerhalb des Raums hörte sie Stimmen,auch wenn das durch das Röhren der Flammen unmöglich war. Sie schrie um Hilfe, doch niemand nahm Notiz von ihr. Sie würde sterben, das wusste sie.
    Unter Anleitung des Arztes erkannte Jac in dem Traum Elemente des Mythos von Daidalos und Ikaros. Der entscheidende Unterschied – und somit der Schlüssel zum Verständnis ihres Traums – lag darin, dass Jac allein in dem Inferno war. Vater und Mutter hatten sie verlassen. Ikaros hatte zwar den Rat seines Vaters ignoriert, doch sein Vater war bei ihm gewesen. Jac wurde von niemandem davor gewarnt, der Sonne oder dem Meer zu nahe zu kommen. Sie war allein. Gefangen. Verloren. Hilflos dem Tod preisgegeben.
    Diese erste Bekanntschaft mit mythologischen Bildern und Archetypen war der Beginn eines langen Weges, der Jac zu ihrem Buch
Den Mythen auf der Spur
und später zu ihrer Fernsehsendung führen sollte. Statt sich mit Parfüms zu beschäftigen wie ihr Bruder, wie ihr Vater und dessen Vater, wurde sie Forschungsreisende auf den Spuren der Mythologie. Sie erweckte die alten Sagengestalten zum Leben, um sie auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. In Athen, Rom und Alexandria suchte sie in Baudenkmälern und Archiven nach Hinweisen auf die Menschen und Ereignisse, die zu Mythen verklärt worden waren.
    Jac wollte ihrem Publikum vermitteln, dass diese Geschichten Metaphern, moralische Lehren und Orientierungshilfen in sich bargen, aber keine Wahrheiten. Wunderglaube konnte gefährlich sein. Der Realitätssinn gab ihr Halt. Es gab keinen Minotaurus, keine Monster, keine Einhörner, Feen und Geister. Zwischen Fakten und Fiktionen verlief eine klare Grenze. Und seit sie erwachsen war, verlor Jac diese Grenze nie aus den Augen.
    Außer wenn sie hierherkam, am Todestag ihrer Mutter, jedes Jahr am 10. Mai.
     
    Das Licht verblasste und erglühte wieder. Jac wusste, dass es nur an den vorüberziehenden Wolken lag, doch es sah aus, als hätte der Engel auf dem Altar zu atmen begonnen. Wie schön wäre es, zu glauben, dass der steinerne Engel zum Leben erwachen könnte. Dass es Helden gab, die einen nie enttäuschten. Dass ihre Mutter wirklich zu ihr sprach.
    Aber das tue ich doch
, antwortete ein Flüstern auf Jacs unausgesprochene Gedanken.
Und das weißt du auch. Ich weiß, du hältst es für gefährlich, mir zu glauben. Aber sprich mit mir, Liebes, es wird dir guttun.
    Jac erhob sich und wickelte die blühenden Apfelzweige aus der Folie. Sie sprach nie mit der Erscheinung. Ihre Mutter war nicht wirklich da. Was sie sah, war nur ein Erzeugnis falsch verschalteter Synapsen. Sie hatte den MRT-Scan auf dem Schreibtisch ihres Vaters selbst gesehen und den Befund gelesen.
    Jac war damals vierzehn gewesen, doch selbst als Erwachsene hätte sie für einige der Ausdrücke ein Wörterbuch gebraucht. Man hatte festgestellt, dass in ihrem Frontallappen, in der Hirnregion, in der sich öfter Hinweise auf psychotische Störungen finden ließen, das Volumen der Weißen Masse leicht verringert war. Das war der Beweis, dass es nicht bloß ihre überbordende Phantasie war, die ihr das Gefühl gab, verrückt zu werden, sondern eine diagnostizierbare Krankheit.
    Doch therapierbar war sie nicht so ohne Weiteres. Jacs langfristige Prognose war ungewiss. Ihr Zustand konnte stabil bleiben, doch ebenso gut konnten sich die Symptome verschlimmern.
    Der Arzt empfahl, sofort mit einer Therapie zu beginnen und auszuprobieren, ob Psychopharmaka eine Linderung herbeiführen würden.
    Jac zerknüllte die Folie, die laut raschelte, doch nicht laut genug, um die Stimme ihrer Mutter zu übertönen.
    Ich weiß, wie sehr dich das beunruhigt, Liebes, und es tut mir leid.
    Sobald die Zweige in der Urne unter dem westlichen Fenster standen, verbreitete sich der Duft ihrer Blüten. Jac selbst mochte lieber dunkle, holzige Noten.
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