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Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)

Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)

Titel: Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
Autoren: Melisse J. Rose
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gefunden hatte, war die Erinnerung noch immer schockierend lebendig. Der Geruch von Rose und Lilie, von Lavendel, Moschus und Patschuli, Vanille, Veilchen und Verbene, Sandelholz und Salbei, und der Anblick der toten, ins Leere starrenden Augen. Der Anblick eines immer so lebhaften, jetzt reglosen Gesichts. Einer ausgestreckten Hand, als hätte sich Audrey im letzten Moment noch erinnert, dass sie etwas Wichtiges zurückließ, und danach greifen wollen.
    Mit den frischen blühenden Zweigen, die sie mitgebracht hatte, durchquerte Jac den Raum und legte den Strauß neben einer der alten Vasen ab. Als sie die vertrockneten Zweige vom letzten Jahr herausnahm, zerfielen sie. Jac kniete sich hin und fegte die Überreste mit der Hand zu einem Haufen zusammen. Sie hätte diese Aufgabe delegieren können, doch es gab ihr bei ihrem alljährlichen Besuch etwas Konkretes und Greifbares zu tun.
    Jac war kein Einzelkind, dennoch besuchte sie die Gruft jedes Jahr wieder allein. Jedes Mal erinnerte sie ihren Bruder an den Termin und hoffte, selbst wenn sie es nicht erwartete, dass Robbie ihr Gesellschaft leisten würde. Erwartungen führten nur zu Enttäuschungen. Das hatte ihre Mutter sie gelehrt und ihre kleine Tochter davor gewarnt, auf die Verheißungen des Lebens hereinzufallen.
    »Überlebende«, hatte sie immer gesagt, »halten sich an die Fakten.« Eine harte, potentiell verheerende Lektion für ein Kind, das noch nicht berücksichtigen konnte, wer sie aussprach: eine Frau, die selbst außerstande war, ihrem Rat zu folgen.
Du stammst aus einer Familie von Träumern, aber es gibt einen Unterschied zwischen Einbildung und Wirklichkeit. Verstehst du? Das wird dir helfen, glaub mir.
    Doch Jacs Kindheitsträume waren anders gewesen als die der anderen. Sie waren voller quälender Geräusche und hässlicher Gestalten. Voller Bedrohungen, vor denen es kein Entkommen gab. Robbies hingegen waren visionär. Er glaubte damals, er würde eines Tages das
Buch der Düfte
finden, das ihr Vorfahr aus Ägypten mitgebracht hatte, und mit Hilfe der Rezepturen darin wundertätige Elixiere zusammenbrauen. Immer wenn er davon anfing, lächelte Jac herablassend, wie ältere Geschwister es tun, und sagte: »Maman hat gesagt, das ist alles nur ausgedacht.«
    »Nein, Papa sagt, es ist wahr«, hielt Robbie dagegen. Dann rannte er in die Hausbibliothek und kam mit dem alten, in Leder gebundenen Geschichtsbuch zurück, das sich schon von allein auf der richtigen Seite öffnete. Er deutete auf einen Kupferstich des römischen Autors und Philosophen Plinius des Älteren. »Er hat Kleopatras Buch selbst gesehen. Das hat er geschrieben, siehst du? Hier steht es.«
    Sie raubte ihrem Bruder nicht gern seine Illusionen, doch es war wichtig, ihm klarzumachen, dass das alles nur eine aufgebauschte Mär war. Wenn sie ihn davon überzeugen konnte, vielleicht glaubte sie es dann irgendwann selbst.
    »Es kann ja sein, dass es irgendwann eine Liste der Parfüms gegeben hat, die unter Kleopatra hergestellt wurden, aber die besitzen wir nicht. Und ein mnemonisches Parfüm gibt es erst recht nicht. Es kann keinen Geruch geben, der Erinnerungen wachruft. Das haben sich unsere Vorfahren bloß ausgedacht, um dem Haus L’Étoile ein besonderes Image zu verpassen. Seitüber zweihundert Jahren entwickelt, produziert und verkauft unsere Familie Parfüms. Nur Parfüms, Robbie. Mixturen aus Ölen und Alkohol. Keine Träume und keine Visionen. Das sind alles bloß Phantastereien. Spannende Geschichten.«
    Ihre Mutter hatte ihr alles über Geschichten beigebracht. Über jene, die man sich selbst ausdachte, wie auch über die, die einen ungebeten überkamen. »Selbst wenn sie beängstigend sind und dich nicht loslassen, kannst du sie immer unter Kontrolle behalten«, hatte Audrey mit einem bedeutungsvollen Blick zu ihr gesagt. Jac begriff, dass es ihr um die Schatten ging, die sie beide verfolgten. Dass sie ihr Hinweise gab, ihr half, mit dem fertig zu werden, was sie beide von allen anderen unterschied.
    Trotz der mütterlichen Ratschläge hätten diese Erscheinungen Jac fast um den Verstand gebracht. Schon zuvor waren sie schlimm genug gewesen, doch nach Audreys Tod wurden Jacs verstörende Visionen lebhafter denn je. Sie waren durch nichts mehr von der Wirklichkeit zu unterscheiden.
    Nach monatelangen Konsultationen bei Ärzten, die ihr nicht helfen konnten, traf sie einen, der sie verstand. Er brachte ihr bei, ihre Ängste zu destillieren, wie es Parfümeure tun. Wie man die
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