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Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)

Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)

Titel: Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
Autoren: Melisse J. Rose
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begraben. So viele Angehörige hier zu wissen, weckte ein seltsames Gefühl der Vertrautheit in ihr. Sie fühlte sich unbehaglich, ruhelos in diesem Reich der Toten, und dennoch wie zu Hause.
    Der Fahrer stellte den Wagen unter einem Robiniengehölz ab und umrundete ihn, um Jac die Tür zu öffnen. Einige Augenblicke lang schwankte sie zwischen Entschlossenheit und Angst, dann stieg sie aus.
    Jac stand im Schatten der Baumgruppe auf den Stufen der prunkvollen Grabkapelle im griechischen Stil und rüttelte an dem Schlüssel. Bis letztes Jahr hatte sie nie Schwierigkeiten mit dem Schloss gehabt, doch damals hatte sich auch noch keine Rostspur vom Schlüsselloch abwärts gezogen. Wahrscheinlich war das Innenleben korrodiert. Während sie prüfend den Bart des Schlüssels hin- und herschob und Druck auf den Griff gab, fiel ihr auf, dass die Türscharniere mit Moos bewachsen waren.
    Ein Bronzerelief an der Tür des Grabmals, dessen ursprünglicher Glanz längst unter dem Grünspan verschwunden war, stellte drei Gesichter dar. Alle drei – Leben, Tod und Unsterblichkeit – blickten auf die Besucherin herab, und Jac betrachtete sie, während sie sich weiter mit dem Schlüssel abmühte.
    Der Lochfraß, der den Tod befallen hatte, ließ seine Züge sanfter erscheinen, besonders um die Augen herum. Ein Finger, den er sich an die Lippen hielt, um sie für immer zu verschließen, verwitterte allmählich, ebenso wie die Mohnblumen in seinem Haar, das Symbol der alten Griechen für den Schlaf.
    Im Gegensatz zu ihren beiden Gefährten hatte die Unsterblichkeit ein jugendliches Gesicht, doch die Schlange, die sich, den eigenen Schwanz verschlingend, um ihren Kopf wand, war mit grünen und schwarzen Verwitterungsspuren übersät. Nicht sehr passend für ein jahrtausendealtes Symbol der Unendlichkeit. Nur das Abbild der menschlichen Seele, ein Schmetterling auf der Stirn der Unsterblichkeit, war makellos.
    Jac musste fast lachen bei dem Gedanken, dass ihr der Eintritt verwehrt bleiben könnte. Doch schließlich gab die Mechanik nach, und der Schlüssel drehte sich im Schloss. Die Scharniere ächzten wie ein Greis, als sie die Tür aufschob. Sofort wehten ihr der kreidige Geruch des Gemäuers und die abgestandene Luft entgegen, mit einem Hauch verrotteten Laubs und trockenen Holzes. Der »Duft des Vergessens«, wie Jac ihn nannte.
    Sie blieb auf der Schwelle stehen und sah hinein.
    Die Vormittagssonne, die durch die beiden mit violetten Iris verzierten Buntglasfenster drang, tauchte den Innenraum in ein melancholisches, kobaltblaues Licht. Es ergoss sich über den lang hingestreckten steinernen Engel auf dem Altar. Sein Gesicht war abgewandt, doch an den Gesten seiner zarten Hände und an den hängenden Flügeln, deren Spitzen den Boden der Kapelle berührten, erkannte man seinen Schmerz.
    Unter jedem der beiden Fenster standen Alabasterkrüge mit Jacs Opfergaben vom letzten Jahr: ehemals blühenden Ästen eines Apfelbaums, die längst vertrocknet und verblichen waren.
    In der Mitte des Raums, auf einer niedrigen Bank aus Granit, saß eine Frau und sah Jac mit einem vertrauten, traurigen Lächeln erwartungsvoll entgegen. Das bläuliche Licht durchdrang die Gestalt und fiel ungebrochen auf Jacs Beine.
    Ich dachte schon, du kommst nicht mehr.
Die leise Stimme schien weniger aus dem Inneren des durchsichtigen Schemens zu kommen als aus der Luft, die ihn umgab.
    Sie ist nicht real, ermahnte Jac sich, betrat die Kapelle und schloss die Tür. Der Geist ihrer Mutter war eine Anomalie. Reine Einbildung. Eine Nachwirkung der Krankheit. Das letzte Überbleibsel aus dieser fürchterlichen Zeit, als das Gesicht im Spiegel nicht ihr eigenes war. Als sie ihre in der Schule gemalten Landschaftsbilder so beharrlich für reale Orte aus ihrer Erinnerung hielt, dass sie nach ihnen zu suchen begann. Als siedie Schreie von Menschen hörte, die lebendig begraben, lebendig verbrannt wurden, Schreie, die niemand sonst vernahm.
    Mit vierzehn hatte Jac zum ersten Mal die Stimme ihrer toten Mutter gehört. In den Stunden nach ihrem Tod ununterbrochen, dann täglich, dann immer seltener. Seit sie Frankreich verlassen hatte und nach Amerika ausgewandert war, hörte sie sie nur noch einmal jährlich, hier im Mausoleum, am Jahrestag ihres Todes. Die Stimme einer Mutter, die sie zu früh verlassen hatte, mit einer allzu dramatischen Geste. Audrey war in der Werkstatt ihres Mannes gestorben, umgeben von den schönsten Düften der Welt. Für Jac, die sie dort
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